Essay: Gruseliges Vorzeichen einer möglichen Zukunft

Nr. 15 –

Das aktuelle russische Regime stehe für eine neue Form des Faschismus, schreibt der Moskauer Publizist Ilja Budraitskis. Was ihn von jenem des letzten Jahrhunderts unterscheidet: Er braucht weder Massenbewegungen noch Ideologie.

In den Wochen seit dem Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine ist Wladimir Putins Russland in eine neue Phase seiner Geschichte eingetreten. Trotz der ständig zunehmenden Repression hatte das autoritäre Russland, das in den letzten zwanzig Jahren errichtet wurde, noch bis vor kurzem eine begrenzte Meinungsfreiheit, einen Wettstreit der Parteien im Rahmen einer «gelenkten Demokratie» und vor allem das Recht auf Privatsphäre zugelassen.

Besonders Letzteres war dabei ein Schlüsselelement der permanenten Entpolitisierung der russischen Gesellschaft: Man mochte von den Entscheidungen der Regierung oder der Rhetorik des Präsidenten nicht begeistert sein, hatte aber immer die Möglichkeit, sich von der «Politik» in die alltäglichen Geschäfte oder den Kreis der Familie zu flüchten. Heute, da der Buchstabe Z – das düstere offizielle Symbol der Invasion in der Ukraine – die Fenster der öffentlichen Verkehrsmittel, der Schulen und der Spitäler schmückt, hat der gemütliche Raum des Privaten seine Existenzberechtigung verloren.

Repression bleibt Staatsmonopol

Die Behörden verlangen nun von allen Bürger:innen eine unmissverständliche öffentliche Zustimmung zum Krieg. Jegliche Anzeichen einer Abweichung von dieser staatsbürgerlichen Pflicht werden als Verrat verurteilt, jede Verbreitung von Informationen über den Krieg, die sich von den offiziellen Mitteilungen des Verteidigungsministeriums unterscheiden, gilt als Verbrechen.

Seit Kriegsbeginn wurden Dutzende Russ:innen – junge und alte, in Moskau und in den Provinzstädten – auf Grundlage der neuen Strafrechtsartikel zur «Diskreditierung der russischen Armee» angeklagt. Nicht nur das Betreten eines Platzes mit einem Antikriegsplakat kann zum Anlass für eine Verhaftung oder eine gewaltig hohe Geldbusse werden, sondern auch ein pazifistisches Abzeichen am Rucksack oder eine unbedachte Äusserung am Arbeitsplatz. Die Verfolgung Andersdenkender ist dabei nicht mehr nur Angelegenheit der Polizei, sondern auch «wachsamer» Bürger:innen, die bereit sind, den Nachbarn oder die Kollegin zu denunzieren.

All das bedeutet allerdings nicht, dass an die Stelle der Entpolitisierung ein massenhafter nationalistischer Fanatismus getreten ist – im Gegenteil: Propaganda und Repression bleiben das exklusive Monopol des Staates. Die Unterstützung des Krieges wird streng von oben gelenkt und lässt keinerlei Form der Selbstorganisation zu. So haben die Behörden der radikalen Rechten etwa verboten, auf eigene Faust Solidaritätsmärsche für die russische Armee zu organisieren – solche Aktionen dürfen bloss lokale Behörden nach einem einheitlichen, von der Präsidialverwaltung genehmigten Szenario durchführen.

Die Unterstützung des Krieges kann nur als Unterstützung für Putin erfolgen, sie soll die volle Deckungsgleichheit des nationalen Anführers und seines Volkes widerspiegeln – und nichts anderes. Jeder, der dazu nicht bereit ist, gilt als Helfer der «Nazis». Diese manische Fixierung der offiziellen Propaganda auf die «Entnazifizierung» und den angeblichen «Nazismus» scheint geradezu die richtigen Definitionen für den veränderten Charakter von Putins Regime zu suggerieren.

Zwei konträre Ansätze

Was man wohl schon jetzt mit voller Gewissheit sagen kann: Das heutige politische Regime in Russland stellt eine neue Form des Faschismus dar – eines Faschismus des 21. Jahrhunderts. Doch was sind dessen Merkmale? Was hat er mit dem europäischen Faschismus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts gemein, und was unterscheidet ihn davon? Eine riesige Reihe historischer und philosophischer Literatur, die dem Faschismus der Vergangenheit gewidmet ist, hat ganz unterschiedliche Antworten auf die Frage nach dem Wesen des Phänomens geliefert. Ich möchte mich auf zwei weitgehend konträre Ansätze konzentrieren: die Theorie der «Bewegung» und jene der «Wende».

Der erste Ansatz – zu finden etwa bei Historiker:innen wie Ernst Nolte – betrachtete den Faschismus in erster Linie als Massenbewegung, die darauf abzielte, eine revolutionäre Bedrohung von ausserhalb des Staates zu unterdrücken. Eines Staates, der zu schwach war, um die Dominanz der herrschenden Elite zu schützen. Demnach zerstörte die faschistische Bewegung das Gewaltmonopol, das der Staat über seine politischen Gegner:innen innehatte, und veränderte dann – sobald sie an der Macht war – diesen Staat von innen heraus. Die faschistischen Regimes Italiens und Deutschlands waren in diesem Sinne vor allem Bewegungen, die den Staat radikal transformierten und ihm eine eigene Form verpassten.

Der zweite Ansatz hingegen betrachtete den Faschismus in erster Linie als Umsturz von oben, ausgeführt durch die herrschenden Klassen selbst. Am deutlichsten vertrat diese Position der ungarisch-österreichische Soziologe Karl Polanyi, der im Faschismus das Streben nach dem endgültigen Sieg der kapitalistischen Logik über jede Form von Selbstorganisation und Solidarität in der Gesellschaft sah.

Das Ziel des Faschismus waren Polanyis Ansicht nach die vollständige gesellschaftliche Atomisierung und die Auflösung des Individuums in der Produktionsmaschine. Der Faschismus war demnach mehr als bloss eine Reaktion auf die Gefahr revolutionärer antikapitalistischer Bewegungen – er war vielmehr untrennbar mit der endgültigen Durchsetzung der Herrschaft der Wirtschaft über die Gesellschaft verbunden. Sein Ziel war nicht bloss die Zerstörung der Arbeiterparteien, sondern auch jeglicher Elemente demokratischer Kontrolle von unten.

Der moderne Faschismus – oder, wie ihn der italienische Historiker Enzo Traverso charakterisiert hat, der Postfaschismus – braucht weder Massenbewegungen noch eine mehr oder weniger kohärente Ideologie. Sein Ziel ist es, die Ungleichheit und die Unterordnung der unteren Klassen unter die höheren als unbestreitbare und unanfechtbare Tatsache zu bestätigen. Als einzig mögliche Realität und einzig verlässliches Gesetz der sozialen Natur.

Nach dreissig Jahren postsowjetischem Autoritarismus und neoliberaler Marktreformen wurde die russische Gesellschaft folgerichtig in den Zustand eines stillen Opfers gebracht – eines geschmeidigen Materials, aus dem sich ein vollwertiges faschistisches Regime bauen lässt. Die äussere Aggression, die auf der kompletten Enthumanisierung des Gegners (der «Nazis» und «Nichtmenschen», wie Putins Propaganda es ausdrückt) beruht, wurde zum entscheidenden Moment in der von oben herbeigeführten «Wende».

Gegen die kapitalistische Logik

Natürlich hat das russische Regime seine eigenen, einzigartigen Merkmale und ist durch eine komplexe Kombination spezifischer historischer Umstände entstanden. Es ist allerdings sehr wichtig zu verstehen, dass der putinsche Faschismus keine Anomalie darstellt, keine Abweichung von einer «normalen» Entwicklung – auch in den westlichen Gesellschaften.

Der Putinismus ist das gruselige Vorzeichen einer möglichen Zukunft. Herbeiführen können sie die rechtsextremen Parteien, die in diversen europäischen Ländern nach der Macht streben. Um für eine andere Zukunft zu kämpfen, müssen wir alle die Grundlagen der kapitalistischen Logik überdenken – die unauffällig, aber beharrlich den Boden für eine «Wende» von oben bereitet, die im Handumdrehen erfolgen kann. Das alte und etwas in Vergessenheit geratene, von Rosa Luxemburg formulierte Dilemma «Sozialismus oder Barbarei» ist seit dem schicksalhaften Morgen des 24. Februar für Russland und die Welt zur aktuellen Realität geworden.

Ilja Budraitskis (41) ist ein linker politischer Autor aus Moskau und schreibt für diverse russische und englischsprachige Medien. Kürzlich erschien unter dem Titel «Dissidents among Dissidents. Ideology, Politics and the Left in Post-Soviet Russia» die englische Übersetzung seiner preisgekrönten Essaysammlung über die sowjetische und die russische Linke (Verso Books, 2022).

Aus dem Russischen von Anna Jikhareva.