Russlands Linke: Aufbruch und Resignation

Nr. 25 –

Die Eltern setzten linke Politik mit dem Sowjetstaat gleich, doch eine jüngere Generation entdeckt in Russland das emanzipative Denken neu. Zu Besuch bei einer fragmentierten Bewegung.

  • Wandschmuck aus Sowjetzeiten in der Moskauer Metrostation Krimskaja.
  • Wolkenkratzer hinter Gebäuden aus der Stalin-Ära am Kutusow-Prospekt.
  • Alte Karussellpferde an der Krimski-Brücke.
  • Zweibeiniger Werbeburger vor dem Vergnügungs­park der nationalökonomischen Errungenschaften.
  • Schach spielende Künstler.
  • Am Arbeiter-und-Kolchosbäuerin-Monument.
  • Skater am Lenin-Denkmal, Kalugaer Platz (Oktoberplatz).
  • Kirill Medwedew (links) von der Band Arkadi Koz bei einer Protestveranstaltung.

Von der Metrostation führt der Weg in ein hippes ehemaliges Industriequartier. Trendbewusste junge Leute, Pop-up-Stores und Bürogebäude, ein Fitnessstudio und amerikanische Kaffeehausketten. Mitten im Viertel im Moskauer Norden, im dritten Stock eines Betonblocks, nehmen Arkadi Koz ihr drittes Album auf, zusammen mit MusikerInnen aus dem Pamirgebirge. Hinter der Glasscheibe singt Mischa Griboedow die russische Version eines Songs von Tom Morello ein, dem Gitarristen von Rage Against the Machine. Kirill Medwedew gibt gestikulierend Anweisungen hinter die Scheibe. Die Studiozeit läuft bald ab, und der Bandleader ist unzufrieden, weil Griboedow sich den Text nicht merken kann, den Medwedew geschrieben hat: «Ich beschreite einen Weg, dessen Ende ich nicht sehen kann.» Medwedews Hektik ist typisch für ihn. Er ist rund um die Uhr aktiv, findet kaum Zeit für ein ruhiges Gespräch.

In der Sowjetunion hatte das «politische Lied» eine grosse Tradition, wurde vom Staat als Propaganda eingesetzt und diente umgekehrt dem Protest. Arkadi Koz wollen es ins postsowjetische Russland hinüberretten. So besingen sie italienische Anarchisten und übertragen spanische Antikriegsballaden ins Russische, covern US-Folk-Legende Woody Guthrie oder Musik der Arbeiterbewegung, übersetzen Lyrik von Bertolt Brecht und verpacken sie in fröhlich hüpfenden Riot-Folk. «Unser Ziel ist so viel ästhetische Offenheit wie möglich, verbunden mit einer klaren politischen Message», sagt Medwedew. «Wir wollen nicht, dass nur das subkulturelle Milieu der radikalen Linken unsere Musik hört.» Politik müsse zu Kunst werden, Kunst zu Politik. Dieser Tradition entspricht auch der Bandname: Der proletarische Dichter, Aktivist und Soziologe Arkadi Koz übersetzte einst die «Internationale» ins Russische.

Das grosse Trauma

In den vergangenen Wochen haben Arkadi Koz auf diversen Kundgebungen der Moskauer Opposition gespielt: Anfang Mai zum Jahrestag der Bolotnaja-Proteste, die vor fünf Jahren Hunderttausende auf die Strasse brachten und eine ganze Generation politisierten. Sie lösten eine Repressionswelle aus, die bis heute anhält und in deren Verlauf Dutzende RegimekritikerInnen, darunter viele Linke, in den Gefängnissen landeten. Ein paar Wochen später trat die Band auf einer Demonstration gegen ein Gentrifizierungsprojekt der Stadtverwaltung auf, die dafür Tausende Wohnhäuser abreissen lassen will. Zwischendurch sangen sie gegen die Kriege in Syrien und der Ostukraine an. Auf dem neuen Album findet sich eine Coverversion von «Le Déserteur» des französischen Chansonniers Boris Vian aus den fünfziger Jahren. Arkadi Koz singen es für den russischen Präsidenten: «Schiessen Sie ruhig, ich werde unbewaffnet sein.»

Medwedew und seine MitstreiterInnen sind Teil einer kleinen, aber aktiven linken Szene, die in scharfer Opposition zum politischen System des Landes steht. Aufgewachsen ist der Sänger in einer sowjetischen Intelligenzijafamilie, in relativ wohlhabenden Verhältnissen. In den neunziger Jahren, als der sowjetischen Planwirtschaft eine «Schocktherapie» verordnet wurde, die viele in Armut stürzte, wurde das tägliche Überleben auch in diesem Milieu schwieriger. «Einige unserer Eltern glaubten daran, dass die Privatisierung ein notwendiger Schritt auf Russlands Weg in die Demokratie sei, andere setzten ihre Hoffnungen weiterhin in die gescheiterte Kommunistische Partei, viele wandten sich ganz von der Politik ab. Aus diesem Trauma heraus, in dem Glauben, dass man weder voller Nostalgie auf die Sowjetunion zurückblicken noch die Vergangenheit verfluchen sollte, entstand später eine neue Linke», erzählt Medwedew. Fand Regimekritik früher oft in der heimischen Küche statt, bringt der 42-Jährige sie heute auf die Strasse. «Irgendwann dachte ich mir: Warum nicht die nächsten Jahrzehnte damit verbringen, in Russland eine linke politische Kultur zu etablieren?»

Einst vom Mainstream als «talentiertester Dichter seiner Generation» gefeiert, brach Medwedew irgendwann mit dem Literaturbetrieb und verzichtete öffentlichkeitswirksam auf die Rechte an seinem Werk. Er schloss sich der Sozialistischen Bewegung Russlands (RSD) an, mit ihren wenigen Hundert Mitgliedern zurzeit die grösste radikallinke Organisation. Das Anliegen der RSD ist es, progressive linke Kräfte unter dem Motto «Revolution! Demokratie! Sozialismus!» zu vereinen.

«Bisher endeten alle Bemühungen, eine von der Kommunistischen Partei unabhängige Bewegung zu gründen, in der Reproduktion stalinistischer Rhetorik, in revanchistischen Gefühlen», erklärt Medwedew das Dilemma der Linken. Die RSD strebe eine kritische Auseinandersetzung mit der sowjetischen Geschichte an, wolle die Vergangenheit akzeptieren. «Es braucht einen Zusammenschluss von Arbeiterbewegung, der neuen linken Intelligenzija und den Feministinnen, eine moderne linke Macht.» Internationale Vorbilder gibt es zuhauf: Syriza und Podemos, die türkische HDP.

Parteien gibt es nicht

Seit dem Ende der Sowjetunion sind in Russland zwar mehrere Parteien entstanden, doch mit westlichen lassen sie sich nicht vergleichen. Den heute existierenden sieben Parteien fehlt eine Basis, sie dienen als Unterstützungsplattformen für einzelne Figuren, zumeist aus der Oligarchie. Entsprechend nutzen die Abgeordneten ihre Mandate mit wenigen Ausnahmen lediglich für persönliche Privilegien. Und ideologische Prinzipien haben mehr mit der Persönlichkeit zu tun als mit dem Parteibuch. Seit Wladimir Putin 2012 nach einer Rochade zu einer dritten Amtszeit in den Kreml zurückkehrte, ist es für unabhängige KandidatInnen noch schwieriger, für ein Amt zu kandidieren. Und seit den Bolotnaja-Protesten wird noch strenger kontrolliert, wer überhaupt Zugang zu Herrschaft erhält. Wer links politisieren will, muss sich ausserparlamentarisch organisieren.

In der Sowjetunion war das kaum anders. Zu Zeiten der Perestroika entstand eine weitverzweigte informelle Bewegung aus Gruppen unterschiedlichster ideologischer Ausrichtungen. Sie definierten sich über ihren Gegensatz zu den Institutionen von Staat und Partei, waren Orte der Begegnung und politischen Selbstorganisation: Freiräume. Auch die AnarchistInnen formierten sich damals neu. Unter den Bolschewiki grausam verfolgt, wurden sie im postsowjetischen Russland zum positiven Beispiel eines linken Aktivismus. Wo Kirill Medwedew die neue Linke vertritt, verkörpert Wlad Tupikin die anarchistische Bewegung. Wer ihre Geschichte erfahren will, muss ihn aufsuchen.

An einem regnerischen Maitag sitzt Tupikin im «Paros Tal», einem unscheinbaren Lokal, in das man durch eine Tür ohne Beschriftung in einem typischen Moskauer Innenhof gelangt. Auf den Tischen: rot-weiss karierte Tischdecken. An den Wänden: orthodoxe Ikonen. In der Mitte des Raums steht ein Klavier. Serviert wird zentralasiatische Küche, dazu Bier aus Armenien. «Die Antifa hat diesen Ort entdeckt», erzählt Tupikin, der das Quartier wie seine eigne Westentasche zu kennen scheint. Jemand sei rein zufällig hier eingekehrt. Weil das Bier hier billiger war, kamen sie immer wieder. «Inzwischen existiert die Antifa praktisch nicht mehr», bedauert Tupikin.

Der Aktivist erzählt mit solch einer Leidenschaft von der Entwicklung der anarchistischen Bewegung in den vergangenen dreissig Jahren, dass die Besucherin kaum dazu kommt, Fragen zu stellen. 1987, während des politischen Umbruchs, gründete Tupikin mit ein paar GefährtInnen seiner Fakultät die Gruppe Obschtschina – nach dem russischen Wort für Gemeinschaft und einem gleichnamigen anarchistischen Magazin aus Genf. Man las verbotene Literatur, diskutierte über die überfällige, bis heute nie vollzogene Entstalinisierung der Gesellschaft und brachte im Selbstverlag Magazine heraus. Die Obschtschina war die erste legale anarchistische Organisation seit den zwanziger Jahren.

Umwelt- und Häuserkämpfe

«Zwischen den offiziellen Erzählungen von KGB und orthodoxer Kirche waren wir auf der Suche nach Ansätzen für unsere Kritik am System», erzählt Tupikin. Auf den Anarchismus sei man gekommen, als ein Mitstudent Zugang zu einem der in der Sowjetunion verbotenen Bücher von Michail Bakunin bekam – und den Text Zeile für Zeile abschrieb. «Als er uns Zitate daraus vorlas, merkten wir, dass uns die Ideologie am nächsten war», erinnert sich der Aktivist. Nach einem klandestinen Treffen im Wald wurde aus der kleinen Gemeinschaft irgendwann die Konföderation der Anarcho-Syndikalisten – mit mindestens 1200 Mitgliedern in mehr als sechzig Städten.

Tupikin arbeitete als Journalist, schrieb gegen Liberalisierung und Deregulierung an, die Anfang der Neunziger zur Wirtschaftsdoktrin wurden. «Alle waren damals sehr aktiv, wir hatten jedoch keine Ahnung, wie wir den Anarchismus voranbringen sollten», sagt er. Später dann habe niemand mehr Zeit für politische Arbeit gehabt, alle hätten schauen müssen, wie sie finanziell über die Runden kamen. Mitte der neunziger Jahre gewann die Ökologiebewegung an Bedeutung. Die Rainbow Keepers, eine radikale Gruppe, der auch Tupikin angehörte, schlugen in russischen Wäldern Protestcamps auf, gingen gegen die Atomenergie auf die Strasse, blockierten den Bau von Autobahnen durch Naturschutzgebiete, besetzten Häuser und protestierten gegen die Kriege in Tschetschenien. Während die russische Öffentlichkeit den ersten Einmarsch im Nordkaukasus noch verurteilte, blieb der Aufschrei beim zweiten Mal aus, stattdessen katapultierte der Krieg im Jahr 2000 Wladimir Putin in den Kreml. Die UmweltaktivistInnen tauschten sich rege mit Gruppen im Westen aus, nahmen im Rahmen von Weltsozialforen an Treffen teil und gründeten russische Ableger. Inzwischen ist von der anarchistischen Bewegung wenig übrig, im Lauf der Zeit hatte man sich zerstritten, prominente Köpfe verschwanden im Gefängnis. Heute treten die AnarchistInnen vor allem einmal im Jahr in Erscheinung: bei der winterlichen Gedenkkundgebung für die Journalistin Anastasia Baburowa und den Szeneanwalt Stanislaw Markelow, die 2009 von Neonazis ermordet wurden. Auch Wlad Tupikin hat sich vor Jahren aus der Bewegung verabschiedet, er gibt nun Geschichtsunterricht.

Hat die anarchistische Linke in den dreissig Jahren seit der Gründung der Obschtschina also nichts erreicht? Tupikin zögert. Dann erzählt er von Errungenschaften im Kulturbereich, von linken Verlagen, die wichtige Literatur übersetzen und publizieren. «Heute muss niemand mehr Bakunin in der Bibliothek abschreiben.» Die Rainbow Keepers hätten im Lauf der Jahre den Bau so mancher Chemiewerke zu verhindern gewusst. Auch der Bau einer Autobahn mitten durch den Chimkiwald, Moskaus grüne Lunge, wurde gestoppt. Und die Antifa habe durch ihren erfolgreichen Kampf gegen die Moskauer Neonaziszene die Behörden dazu gebracht, die Bevölkerung zu schützen. Kleine Schritte vielleicht – in Russland jedoch schon viel. Auch in Zukunft werde man nur langsam vorankommen, sagt der 51-Jährige. Für Lokalwahlen kandidieren, Arbeit im Quartier leisten, unabhängige Gewerkschaften unterstützen, die Leute bilden.

Die Furcht der Regierung

Hundert Jahre nach der Oktoberrevolution gibt sich Ilja Budraitskis kämpferisch. Der Historiker sitzt in einem schicken Café auf dem Moskauer Prachtboulevard Twerskaja, der schnurstracks zum Kreml führt. Damit die Gäste sich wie in der Wohnung eines Freundes fühlen, streunt eine Katze durch den Raum. «Die Regierung fürchtet die Revolution schon seit fünfzehn Jahren – doch wer mit den Geistern der Revolution spielt, beschwört sie erst herauf», sagt er. «Wie im Film ‹V wie Vendetta›.»

Während die offizielle Geschichtsschreibung von der Oktoberrevolution als «Zeit der Wirren» spricht, scheut sich die neue Linke nicht, unbequeme Fragen zur Sowjetunion zu stellen: Wie konnte der Aufbruch in eine totalitäre Herrschaft umschlagen? Die Auseinandersetzung ist auch ein Generationenkonflikt. Die Generation der Eltern setzt linke Politik häufig mit dem Sowjetstaat gleich. Die Jüngeren sehen darin bei aller Kritik an Lenins Aufstand auch eine Blaupause für die Verwirklichung emanzipatorischer Anliegen. Eine eigentliche Klärung findet nicht statt. «Die Gesellschaft ist nicht zu einer Diskussion bereit, wie sie etwa zum 200. Jahrestag der Revolution in Frankreich stattfand», resümiert Budraitskis.

Wie Kirill Medwedew ist auch er Teil der RSD, daneben unterrichtet er unter anderem an einer Hochschule Kritische Theorie und betreibt das Onlineportal «Open Left». Das Bild, das er von der russischen Linken zeichnet, ist ernüchternd. «Die Annexion der Krim und der Krieg in der Ukraine haben nicht nur in der Mehrheitsgesellschaft Brüche erzeugt», sagt er. Über den richtigen Umgang damit habe man sich auch in der Linken zerstritten: Manche meinten, die Ukraine habe sich mit der Revolution in Abhängigkeit neoliberaler westlicher Akteure begeben. Und weil auf dem Kiewer Maidan auch rechtsextreme Kräfte präsent waren, lehnten viele die ukrainische Revolution sowieso ab.

Die Hoffnung hat der 36-Jährige nicht aufgegeben. Er erzählt von vielen Aktionen, die zwar die Gesellschaft nicht von heute auf morgen radikal verändern, aber dennoch nicht wirkungslos bleiben. Bei den Moskauer Lokalwahlen im Herbst will die RSD KandidatInnen aufstellen, unter anderem Kirill Medwedew. «Die russische Linke hat viele talentierte und mutige Aktivisten in ihren Reihen, gute Organisatoren, Experten und Intellektuelle – doch nur wenige sind bereit, den Schritt in die Politik zu machen. Dabei ist ein Lokalpolitiker im Grunde nichts anderes als ein Aktivist», erklärt Medwedew, als er seine Kandidatur bekannt gibt. Auch dass überall im Land linke Lesezirkel entstehen, stimmt Historiker Budraitskis hoffnungsvoll. Er bestätigt, was die anderen Gesprächspartner schon gesagt hatten: Wo Bildungspolitik vor allem ein Propagandainstrument der Herrschaft ist, wird alternative Bildung zum Schlüssel für die Emanzipation. Am erfolgreichsten wenden diese Taktik die FeministInnen an.

Auf die Bildung setzen

In einem Konferenzraum der linken deutschen Rosa-Luxemburg-Stiftung sind zehn junge Frauen und ein Mann zusammengekommen, um mit Kursleiterin Joyce Kuaovi intersektionellen Feminismus, also die gegenseitige Beeinflussung unterschiedlicher Diskriminierungsformen, zu diskutieren. Viele sind Studentinnen Anfang zwanzig. Sie wollen sich «mit Argumenten für mühsame Diskussionen wappnen». Die Gruppe bespricht Texte aus der Leseliste, Kuaovi beantwortet Fragen, regt zu Diskussionen an. Als die Lektion nach zwei Stunden endet, ist es draussen schon beinahe dunkel.

Wie aus den feministischen Theorien konkretes Engagement entstehen könnte, fragt jemand. Kuaovi, die in ihrer eigenen Dissertation die Situation zentralasiatischer Migrantinnen untersucht, erzählt von ihrer Arbeit für eine Menschenrechtsorganisation. «Ich publiziere meine Forschung nicht zuletzt, damit Aktivisten ihre alltägliche Arbeit mit wissenschaftlichen Studien untermauern können. Zugleich ist die Arbeit mit Betroffenen wichtig», sagte die 29-Jährige. Aus diesem Grund schreibt sie Merkblätter für die Migrantinnen, die ihre Rechte beinhalten. Wenn ihre Dissertation fertig ist, will Joyce Kuaovi Intersektionalitätspionierin Kimberlé Crenshaw ins Russische übersetzen. Die meisten TeilnehmerInnen kündigen an, zum nächsten Treffen der feministischen Lesegruppe wiederzukommen.

Die Begegnungen mit ExponentInnen der russischen Linken machen klar, wie fragmentiert diese ist: zu viele ideologische Grabenkämpfe und AktivistInnen, die die Hoffnung auf Veränderung längst aufgegeben haben, zu viele junge Linke, die das Land spätestens nach der jüngsten Repressionswelle verlassen haben. Politik ist schliesslich auch eine Frage von Ressourcen. «Die Leute lassen sich nicht besonders gut vernetzen», hatte Historiker Ilja Budraitskis gesagt. Zwar ist in den vergangenen Monaten unter Anleitung des rechtsliberalen Oppositionellen und Antikorruptionskämpfers Alexei Nawalny so etwas wie eine Protestbewegung entstanden, zuletzt strömten viele Tausend auf Russlands Strassen. Doch Nawalnys im Grunde entpolitisierte Bewegung stellt die Linke vor ein Dilemma, weil sie die hierarchische Organisierung, den Personenkult um ihn ablehnt. Während Nawalny die Jugend zu mobilisieren vermag, die ihr eigenes Leben unzufrieden mit Gleichaltrigen im Westen vergleicht, setzt die Linke andere Prioritäten. Sie sieht den postsowjetischen Kapitalismus am Ende, Nawalny jedoch, vielleicht so etwas wie der Emmanuel Macron Russlands, strebt noch mehr Deregulierung an. Die vermutlich einzige Gemeinsamkeit besteht in der Ablehnung des heutigen Regimes. Auch wenn Nawalny zurzeit der einzige ernst zu nehmende Oppositionspolitiker ist: Für eine längerfristige Allianz ist das zu wenig.

Eine neue Nationalhymne

Einige Wochen nach dem Studiobesuch bei Arkadi Koz wird ihr neues Album vorgestellt. Das Ziel des Pamir-Moskau-Festivals: auf die Anliegen der zentralasiatischen Diaspora aufmerksam machen, sich solidarisch zeigen, die Kämpfe für mehr Rechte zusammenführen. Nach einem Tag voller Podiumsgespräche zu Migration und Identität und einem Kinderprogramm, nach tadschikischem Essen und traditioneller Kultur spielen die MusikerInnen aus dem Pamirgebirge und die Moskauer Arbeiterband unter lautem Jubel die neuen Stücke. Kurz vor Ende ergreift Kirill Medwedew das Mikrofon. «Wir haben heute mit der ‹Internationalen› begonnen, der ehemaligen Nationalhymne unseres Landes – und wir möchten mit einem Song abschliessen, der hoffentlich mal zur russischen Nationalhymne wird», ruft er, dann erklingen die ersten Töne des Evergreens «This Land Is Your Land». Medwedew hat den russischen Text dazu geschrieben: «Ob Bauarbeiter, Student, Bäuerin, Chauffeuse, Bergarbeiter oder Lehrerin. Dieses Land wurde für dich und mich gemacht.»

Kirill Medwedew wird wenig später bei einer Kundgebung gegen das Bauprojekt der Stadtverwaltung vorübergehend verhaftet, Ende Juni ist der Gerichtstermin. Der Handlungsspielraum der russischen Opposition ist klein. Doch Medwedew lässt sich nicht unterkriegen: Er mobilisiert weiter gegen den Abriss der Wohnhäuser.

Für die Bilder zu diesem Artikel hat die WOZ den russischen Fotografen Evgeny Feldman gebeten, durch Moskau zu streifen und sich vom Gegensatz alt/neu im Stadtbild inspirieren zu lassen.

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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