Propaganda und Widerstand: «Das stellt den Klassenfrieden infrage»

Nr. 39 –

Wie haben sich die Sprachcodes des russischen Regimes mit dessen Vollinvasion in die Ukraine verändert? Und von wo droht diesem Regime am ehesten Ungemach? Ein Gespräch mit dem Soziologen Alexander Bikbov.

Werbeplakat der russischen Armee an einer Bushaltestelle in St. Petersburg
«Die Heldenstadt hat ihre Helden»: Werbeplakat der russischen Armee in St. Petersburg. Foto: Maksim Konstantinov, Imago

WOZ: Alexander Bikbov, oft, wenn ich in Russland ein Gespräch auf den Krieg gegen die Ukraine zu lenken versuche, bekomme ich eine Mischung aus ungeordneten Gedanken und Propaganda als Antwort. Wie erklären Sie sich das?

Alexander Bikbov: Oft zeugt das mehr von Überforderung als von einer bestimmten Haltung. Die staatliche Propaganda ist nicht so sehr darauf ausgerichtet, konkrete Handlungsanweisungen zu geben; in erster Linie lehrt sie einen bestimmten Gebrauch von Sprache. Fängt jemand an, sich etwa über die Nato als Gegnerin zu beschweren, ist das deshalb Ausdruck dieses verlangten Aneignungsprozesses.

Die Leute lamentieren also bloss, ohne zu reflektieren, was sie sagen?

Zweifellos. Besonders deutlich war das in den ersten Kriegsmonaten zu spüren, als die staatliche Propaganda plötzlich offen vom «Krieg des Westens gegen Russland» sprach. An dieses normative Raster hatten sich dann alle Menschen in Russland anzupassen – die Aneignung verschiedener Sprachcodes verlief rasant. Damals waren viele schockiert, dass insbesondere die älteren Generationen mit diesem Kurs des Regimes mitgingen – was allerdings daran lag, dass diese Leute neu erlernten, sich zu artikulieren. Zuvor waren sie gar nicht gefordert gewesen, aktiv eine politische Position zu vertreten.

Der Soziologe

Der Moskauer Soziologe Alexander Bikbov (50) forscht zur Sozialgeschichte der sowjetischen Gesellschaft und zu Protesten der Gegenwart. 2014 erschien (nur auf Russisch) sein Buch «Grammatik der Ordnung. Eine historische Soziologie der Konzepte, die unsere Wirklichkeit verändern». Bikbov ist derzeit Gastdozent am Centre d’études russes, caucasiennes, est-européennes et centrasiatiques (Cercec) in Paris, im vergangenen Jahr hatte er eine Gastprofessur an der Universität Bochum.

Als Übersetzer übertrug Bikbov unter anderem Werke von Pierre Bourdieu und Michel Foucault ins Russische.

 

Portraitfoto von Alexander Bikbov

Haben diese Codes vor der russischen Invasion in die Ukraine denn nicht existiert?

Schon vor dem 24. Februar 2022 bedienten sich professionelle Propagandistinnen und rechtsextreme Essayisten gewisser Formulierungen: Sie erklärten, die Ukraine oder das ukrainische Volk würden nicht existieren, ukrainische Ansprüche auf kulturelle und nationale Autonomie hätten einen rein nazistischen Charakter. Vor der Invasion hatte die Propaganda aber auf einem quasi liberalen Modell basiert, das konkurrierende Standpunkte zuliess. Das Regime stützte sich zudem auf die politische Abstinenz der Bevölkerung, nicht auf deren militärische Mobilisierung.

Und was änderte sich mit der Vollinvasion?

Seither lautet die klare Aufforderung an die Bevölkerung, sich die entsprechende Sprache anzueignen – eine Art pädagogischer Lernprozess im Schnelldurchlauf. Um der Repression zu entgehen, musste man sich positionieren. Das Regime inszenierte öffentlich mehrere Verfahren, um den Gebrauch «unangemessener» Wörter zu bestrafen, etwa «Krieg» und «Frieden». Da die Propaganda für verschiedene Zielgruppen gleichzeitig bestimmt und deshalb vielschichtig war, enthielten die Codes allerdings Widersprüche. Inzwischen haben die Menschen die erwünschten Codes weitestgehend erlernt.

Zaghaftes Schweigen und der Unwille, unbequeme Positionen zur Kenntnis zu nehmen, sind wichtige Bestandteile der täglichen Kommunikation: Seit dem Sommer 2022 sagen meine Gesprächspartner:innen, sie würden es immer öfter vermeiden, über kriegsbezogene Themen zu sprechen. Zum einen, weil sie nie sicher sein können, mit wem sie es zu tun haben und ob das Gegenüber sie nicht denunzieren würde. Zum anderen, weil sie nicht herausfinden wollen, dass das Gegenüber für den Krieg ist. Also wird weniger geredet.

Die Verwirrung rührte vermutlich auch daher, dass die meisten in Russland zuvor überhaupt keine eigene politische Meinung hatten.

Wenn man – politisch unbedarft oder sich zuvor bewusst von Politik distanzierend – bei null anfangen muss, politisch Stellung zu beziehen, holpert es logischerweise. Hinzu kommt, dass die russische Propaganda wie moderne Werbung funktioniert, also jeweils spezifisch auf einzelne Zielgruppen zugeschnitten ist, und nicht wie die Propaganda zu Sowjetzeiten mit ihrer für alle gleichermassen gültigen Richtschnur. Das Narrativ von der «Entnazifizierung» der Ukraine schlägt eher bei Menschen mit politischem Bewusstsein an; jenes von der Verteidigung der russischsprachigen Bevölkerung im Donbas eher auf eine emotionale Wahrnehmung.

2014 haben laut Umfragen 86 Prozent der Russ:innen die Annexion der Krim unterstützt. Aber was sagen solche Zahlen überhaupt aus, wenn sich Menschen einen bestimmten Sprachgebrauch aneignen – ohne dass dahinter gefestigte Überzeugungen stehen?

Umfrageergebnisse zeigen in erster Linie, wie stark die Grundloyalität gegenüber dem Regime ist. Es ergibt wenig Sinn, direkt zu fragen, ob jemand Putins Politikansatz befürwortet, da die Wahrscheinlichkeit gross ist, eine konforme Antwort zu erhalten. Wer Loyalität äussert, geht kein Risiko ein – wer das hingegen nicht tut, ist spätestens seit 2022 nicht mehr sicher.

Schon vorher verbargen sich hinter Antworten auf die Frage nach der Unterstützung für Putin kaum inhaltliche Stellungnahmen. Positionen ändern sich natürlich, aber es wird in Gesprächen auch viel laviert, weil immer neue potenzielle Gefahrenherde auftauchen. Neu ist das Bemühen im akademischen Arbeitsumfeld, konfliktfrei zu kommunizieren: Weder jene, die den Krieg befürworten, noch jene, die ihn für eine Katastrophe halten, reden darüber, weil sie die minimale Solidarität, die es am Arbeitsplatz noch gibt, aufrechterhalten wollen. Als letzte Stütze in einer stark angespannten Situation bietet diese Solidarität einen gewissen Schutz.

Hat die Aneignung der Propagandasprache zur Folge, dass davon abweichende Gedanken verkümmern oder gar nicht erst entstehen?

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu plädierte dafür, zwischen der äusseren Form politischer Prozesse und dem prinzipiell nicht Denkbaren zu unterscheiden: Bei Ersterem fällt die Vielfalt des Denkens unter die Zensur – wobei Bourdieu nicht das Extrem einer Gesellschaft unter Kriegsrecht vor Augen hatte wie das heutige Russland. Die direkte Zensur zielt auf die blosse Erwähnung der russischen Militäraggression gegen die Ukraine ab: Wer die Aggression benennt, wird strafrechtlich verfolgt. Das Undenkbare, das hinter diesem Prozess steht, ist das imperial-koloniale Herrschaftsmodell der russischen Regierung.

Werden diese Fragen in der Gesellschaft diskutiert?

Die öffentliche Kritik richtet sich gegen die explizite Struktur, während die Diskussion über das Herrschaftsmodell selbst unter Oppositionellen oft vernachlässigt wird. In erster Linie greifen das Thema Aktivist:innen auf, die sich für die Rechte nationaler Minderheiten einsetzen. Die zensurbedingte Verdrängung gewisser Wörter macht es unmöglich, bestimmte Sachverhalte anzusprechen – und produziert gleichzeitig eine gewisse Findigkeit, Sprachverbote auf kreative Weise zu umgehen. So erweitert sich die Sprache sogar, wird komplexer: Putin etwa wird selten beim Namen genannt, stattdessen gerne als «er» bezeichnet – was implizit auf eine mythologische Machtinstanz verweist. Allerdings braucht das Gegenüber ein implizites Wissen, um die Codes zu verstehen. Insofern beobachten wir eher eine Ausweitung als eine Vereinfachung der Sprache.

Wie haben russische Oppositionsmedien auf diese neuen Begebenheiten reagiert?

Seit Kriegsbeginn sind Dutzende neue Projekte entstanden: Telegram-Medien, die ihr Publikum über den Messengerdienst finden. Einerseits trennen sie klar zwischen der Darlegung von Fakten und ihrer Interpretation – die Realisierung eines bis dahin im russischen Journalismus unvollendeten Traums. Andererseits kommt in diesen Medien ein moralisierender Impetus zum Ausdruck, der eine klare Trennlinie zwischen Gut und Böse zieht. Gewisse Bereiche passen nicht in dieses binäre Schema.

Haben Sie ein Beispiel?

Die Mütter und Ehefrauen mobilisierter Soldaten etwa, die in Russland derzeit protestieren. Die meisten Koordinatorinnen sind Frauen mit Hochschulbildung. Rein von ihrem sozialen Hintergrund her würden sie jenen Teilen der Bevölkerung nahestehen, die 2011 und 2012 für faire Wahlen auf die Strasse gingen. Was diese Frauen wollen, ist, ihre Angehörigen zurückzubekommen – eine absolut legitime Absicht. Gleichzeitig schwebt eine fragwürdige ethische Dimension mit: Was sie fordern, bedeutet, dass statt ihrer Angehöriger andere an die Front müssen. Wobei einzelne Frauen inzwischen den Krieg als Ganzes infrage stellen und das Ende der Teilmobilmachung fordern. Der Protest erinnert an jenen der Lkw-Fahrer:innen aus dem Jahr 2016.

Inwiefern?

Die Fahrer:innen gingen zunächst auch nur für ein bestimmtes Anliegen auf die Strasse: gegen die Einführung einer Sondermaut für Lkws. Dann streute die Propagandamaschinerie gezielt Desinformation über die Maut, von der Putins engster Kreis profitierte – was die Fahrer:innen eine kritische Haltung gegenüber dem Kreml und seinen Lügen entwickeln liess. Das ist ein Beispiel dafür, dass sich in der Sprache wie im Bewusstsein der Menschen etwas bewegen kann. Die Lkw-Fahrer:innen hatten einen sehr langen Atem. Auch wenn ihr Protest letztlich ins Leere lief, war das eine beispiellose Kampagne. In der jetzigen Situation scheint ein langfristig angelegter Protest, der auf schrittweise Veränderungen abzielt, ebenfalls die einzig mögliche Option.

Ein Aufstand scheint ziemlich unwahrscheinlich. Es gibt allerdings relativ viele, die weder zur «putinschen Mehrheit» noch zur Opposition gehören.

Einige gehören im Kontext des Krieges zu den Aufsteiger:innen: Sie verdienen jetzt enorm viel mehr als vorher. Dann gibt es Kriegsrückkehrer, die bei der Besetzung bestimmter Arbeitsstellen oder hinsichtlich Bildungsmöglichkeiten bevorzugt behandelt werden. Statistisch gesehen ist diese Gruppe klein, sie wächst jedoch. Diese Leute finden, sie hätten sich durch den Einsatz ihres Körpers Privilegien verdient. Gleichzeitig stehen sie in der Bevölkerung durch die Gewaltausübung unter Generalverdacht und bringen – so der Tenor diverser Medienberichte – ihre Erfahrungen in die friedliebende russische Gesellschaft ein, die weit weg vom Kriegsgeschehen steht. Es gibt etliche Geschichten über Morde oder Vergewaltigungen durch Frontrückkehrer. All das stellt den Klassenfrieden infrage.

Wie meinen Sie das?

Die Bevölkerung in der Peripherie – Angehörige nationaler Minderheiten und Armutsbetroffene – dient als Kanonenfutter. Im Verlauf der letzten zwei Jahre hat sich dieser Kreis um Menschen mit Migrationshintergrund erweitert: solche, die erst kürzlich einen russischen Pass bekommen haben, oder angeworbene ausländische Staatsangehörige. Sie alle werden zu Biomaterial degradiert. Die Biopolitik bestimmt, wer als Erstes in den Tod geschickt wird. Mir scheint, Frust, der Veränderungen anschieben könnte, ist am ehesten in diesem Milieu zu erwarten.

Die Bewegung der Soldatenfrauen nimmt dabei eine wichtige Stellung ein. Mit ihrem Eintreten für soziale Gerechtigkeit trifft sie ins Schwarze, verweist vor allem auf die Ungleichheit hinsichtlich des Rechts auf Leben. Weil es inskünftig mehr gesellschaftliche Gruppen geben wird, die vom Krieg profitiert haben, sind soziale Spannungen programmiert. Die Rückkehr von der Front bedeutet aber für viele auch den Wiedereinstieg in ein wenig komfortables Leben zu den früheren Lohnbedingungen. Der Klassenfrieden, der auf Loyalität gegenüber dem Staat und der Beibehaltung des Lebensstandards beruht, wird dadurch immer fragiler.