Literatur: Kleine Leute im Sturm grosser Historie

Nr. 15 –

Catalin Dorian Florescu erzählt in seinem neuen Roman «Der Feuerturm» die Geschichte Bukarests anhand der Erinnerungen einer Familie.

Der schweizerisch-rumänische Autor Catalin Dorian Florescu ist der grosse «metteur en scène» der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Er inszeniert grossformatige Bilder von barocker Fülle, er erzählt gerne dramatische Geschichten, die irgendwo zwischen historischer Wahrheit, Legende und poetischer Erfindung angesiedelt sind. Und er greift dabei weit aus in Geschichte und Geografie, zieht erzählerische Bögen über Jahrhunderte und Kontinente hinweg. Die Protagonist:innen seiner historischen Romane sind Kinder des Volkes, die sich gegen Unbilden aller Art behaupten müssen. Florescu hat es gerne stark: Er erzählt von Liebe und Verrat, Grausamkeiten und Schönheiten.

Wenn die Puppenspielerin Zaira im gleichnamigen Roman aus dem Jahr 2008 ihr Leben erzählt, reisen wir von Katalonien über Ungarn bis in die USA und wieder zurück. Jacob, im Roman «Jacob beschliesst zu lieben» (2016), berichtet von den Glückssucher:innen aus vielen Teilen Europas, die seit der Zeit Maria Theresias im 18. Jahrhundert im Banat – die Region umfasst Teile von Rumänien, Serbien und Ungarn – den Kampf gegen Armut, Hunger und Unwetter, gegen Cholera, Frost, Erdbeben und Überschwemmungen führten. Und im Roman «Der Mann, der das Glück bringt» (2015) bricht Elena, die verstossene Tochter einer leprakranken Mutter, aus dem Donaudelta nach New York auf, wo sie in der Nacht vor dem Attentat auf das World Trade Center einen erfolglosen, aber tapferen Stimmenimitator trifft.

Am verbotenen Westradio

Florescus neuer (und insgesamt siebter) Roman, «Der Feuerturm», erzählt die Geschichte Bukarests – genauer: die Geschichte der Menschen in Bukarest – vom legendären Anfang, als es noch ein Kaff in einem riesigen Eichenwald war, bis Weihnachten 1989, als acht Menschen in einer Küche sitzen und am verbotenen Westradio vom Aufstand gegen den «Bauerndiktator» Nicolae Ceausescu hören. Die jugendliche Iana ist erschüttert, elektrisiert und schöpft Hoffnung: «Auch bei uns stehen die Zeiten nicht still», frohlockt sie. Ihr Vater aber entgegnet bitter: «Doch, das tun sie.» Er, der – vom eigenen Bruder denunziert – in den Foltergefängnissen des kommunistischen Regimes gelitten hat und von Rachegedanken geplagt wird, hat keine Kraft mehr für Zuversicht.

Dieser Vater, Victor mit Namen, ist der Erzähler des Romans, seine Gegenwart sind die achtziger Jahre unter Ceausescu, und aus dieser Gegenwart heraus erzählt er die Geschichten zweier Familien: Die Stoicas sind eine Familie von Feuerwehrmännern, tapfere, stolze Kämpfer gegen das Böse in der Wirklichkeit und in der Fantasie. Der Ururgrossvater hat fast allein die Türken geschlagen: «Grigories Mundpropaganda hatte Jahrzehnte Zeit, um zur Wahrheit zu werden», heisst es über ihn mit einem charmanten Augenzwinkern, das für Florescus Erzählweise typisch ist.

Ihre Suppe ist legendär

Eine Generation später, Ende des 19. Jahrhunderts, betritt Urgrossmutter Ecaterina die Szene. Sie ist eine zentrale Figur des Romans, ein Genie der Menschlichkeit. Für jede ihrer zahlreichen Sorgen hat sie einen eigenen Heiligen, den sie verehrt. Sie ist ebenso grosszügig wie streng. Mit Worten und Taten, mit Liebe und ihrer legendären Suppe hält sie die Familie zusammen, die keine reine Blutsgemeinschaft ist, denn viele Entwurzelte werden da adoptiert. Sie sorgt auch dafür, dass niemand allein sterben muss. Sie sammelt nicht nur Lebende, sondern in ihrem Familiengrab auch Tote ein.

Mit ihr klingt ein wichtiges Thema des Romans an, nämlich die Frage, woher die Resilienz der kleinen Leute kommt. Was fördert die Widerstandsfähigkeit gegen Unglück und Tyrannei? Stärkend wirken Familie, Freundschaft, Nachbarschaftshilfe, Toleranz, Vernetzung unter den Menschen, und: das Erzählen! Ansatzweise gelingt es Grossmutter Ecaterina sogar, die Familie der Entwurzelten und Verwilderten zu integrieren. Das sind vor allem unberechenbare Männer: desintegrierte Vagabunden die einen, geschundene Arbeiter die anderen. Aus ihren verletzten Seelen kommen Aggressionen, die das mörderische kommunistische Regime einzusetzen weiss.

Der Erzähler hat eine besondere Motivation zum Erzählen: den Kampf gegen die Amnesie. Erzählen ist Widerstand gegen die Zerstörung der Geschichte und der Geschichten durch das Regime. Der neue, «kommunistische» Mensch, so heisst es einmal, sei ein «wahrer Meister des Vergessens». «Beton drüber» ist die Devise im übertragenen Sinne wie auch ganz konkret bei der Stadtplanung. Die wirkliche, widersprüchliche Geschichte soll verschwinden und durch ein Surrogat ersetzt werden. Kirchen werden zerstört oder auf Schienen verschoben, Friedhöfe in Stauseen ertränkt, ganze Stadtviertel – alte, gewachsene, menschlich dimensionierte – müssen den riesigen Plattenbauten weichen. Geschichten aber, sagt der Erzähler, seien das Einzige, «was sie uns nicht nehmen können».

Überlebt hat auch der Feuerturm. Heutzutage ist er nurmehr ein Verkehrshindernis (immerhin, könnte man sagen, angesichts des wilden Verkehrs von Bukarest), aber einst, als er um 1890 gebaut wurde, war er ein Zeichen der neuen Zeit und das höchste Gebäude der Stadt. Von seiner Plattform aus konnte man nicht nur Brände lokalisieren, sondern sich auch dem Fernweh hingeben. Mit der Zeit entwickelte sich zudem der Brauch, dass die Totenzüge wie die Hochzeitszüge eine Runde um den Feuerturm gingen. Und schliesslich war der Turm auch die Plakatwand der Stadt. Hier erfuhr man Neues. Die Zeit des Vaters des Erzählers geht zu Ende, als Ende der zwanziger Jahre der Turm nicht mehr das höchste Gebäude ist.

Weltbrände fegen über die Stadt

Natürlich spielt das Feuer, als Stadtbrand und als Metapher, eine Rolle. Zahlreich sind die Kriege und die Weltbrände, die über die Stadt hinwegfegen. Und schliesslich gibt es auch das reinigende Feuer. Als die Schriften von Ceausescu verbrannt werden, spricht der Erzähler von der ersten berechtigten Bücherverbrennung. Kostbar kann die Wut der Unterdrückten sein, wenn sie zu Widerstand führt, gefährlich aber auch, wenn sie als Rache und blinde Aggression erscheint. Die junge Iana, ihrer Entfaltungsmöglichkeiten beraubt und zur Scham über ihre Ohnmacht verurteilt, würde am liebsten die Stadt anzünden. Wie verständlich! Aber auch die Grausamkeit der Faschisten geschieht aus Wut. Der Erzähler schildert, wie der Süssigkeitenverkäufer neben dem Turm den Kindern noch Bonbons schenkt, als seine Mörder sich schon nähern. Seine Bonbons im Mund, schauen die Kinder dann zu, wie der Jude erschlagen wird.

Florescus «Feuerturm» ist an manchen Stellen zum Heulen, an anderen zum Lachen. Hinter dem Erzähler Victor steht noch ein anderer Erzähler, der uns sicher durch die detailreiche Fülle und die nichtlineare Abfolge von Geschichten geleitet. Ein Erzähler, der sich für alles Lebendige begeistert, der alle seine Figuren liebt oder zumindest zu verstehen versucht. Ihm vertraut man sich gerne an.

Catalin Dorian Florescu: Der Feuerturm. Verlag C. H. Beck. München 2022. 358 Seiten. 37 Franken