Die Situation im Donbass: Eskalation nach altem Drehbuch
Die jüngsten Entwicklungen im Donbass erinnern an das Vorgehen des russischen Regimes in früheren Konflikten. Weil ein umfassendes Friedensabkommen derzeit ausser Reichweite ist, sind für eine Entspannung pragmatische, kleine Schritte nötig.
Mit der Anerkennung der beiden «Volksrepubliken» Luhansk und Donezk hat Russlands Präsident Wladimir Putin am Montagabend Fakten geschaffen. Damit ist Russland endgültig und unabstreitbar Partei im Konflikt in der Ostukraine, der seit acht Jahren anhält.
Wer glaubt, dass der Krieg damit in eine stabilere Phase tritt, dürfte irren: Putin hat in seiner Rede die Staatlichkeit der Ukraine als Ganzes infrage gestellt. Und im Donbass beanspruchen die im April 2014 ausgerufenen «Volksrepubliken» ein Gebiet, das über die Frontlinie hinweg die ganzen Oblaste Luhansk und Donezk umfasst – also inklusive Städte wie Mariupol, Kramatorsk und Slawjansk, die noch immer von der Ukraine kontrolliert werden.
Gegenüber der Nachrichtenagentur Tass unterstützt Putin diese Gebietsansprüche der «Volksrepubliken»: «Wir haben alle ihre grundlegenden Dokumente, einschliesslich der Verfassung, anerkannt», so Putin. «Und in der Verfassung entsprechen die Grenzen den Grenzen der Gebiete der Regionen Donezk und Luhansk, wie diese zu der Zeit waren, als sie zur Ukraine gehörten.» Auf eine Stabilisierung der Lage lässt diese Aussage nicht hoffen.
Abtransportiert oder eingezogen
Die Vorgänge im Donbass erinnerten in den letzten Wochen an den August 2008, kurz vor dem Einmarsch russischer Truppen nach Südossetien. Nachdem die Kaukasusregion die Unabhängigkeit von Georgien erklärt hatte, evakuierten russische «Friedenstruppen» einen grossen Teil der Zivilbevölkerung der bis heute von kaum einem Staat der Welt anerkannten «Republik Südossetien». In Russland wurden diese Evakuierungen medial ausgeschlachtet – und damit auch das Recht auf einen Einmarsch in Georgien untermauert, als das georgische Militär anschliessend die südossetische Hauptstadt Zchinwali angriff.
In ähnlicher Manier wurden Mitte Februar zahlreiche Menschen aus dem Donbass über die Grenze nach Russland evakuiert. 61 000 Bewohner:innen der «Volksrepublik Donezk» habe man nach Russland evakuieren können, berichtete Alexander Chuprijan, der Chef des russischen Katastrophenschutzministeriums, am letzten Freitag. Zuvor waren Pläne einer Evakuierung von 700 000 Menschen bekannt geworden.
Die Zeitschrift «NV» (früher «Nowoje Wremja») berichtet von dramatischen Vorgängen: Viele der Evakuierten hätten zwei Tage ohne Essen und Schlaf in Bussen verbracht. Und die ukrainische Menschenrechtsbeauftragte Ljudmila Denisowa erklärte, die Betroffenen seien bei diesen «Zwangsevakuierungen» des Rechts auf angemessene Lebensbedingungen beraubt worden. Oftmals hätten die russischen Behörden den Evakuierten weder Unterkunft noch warme Mahlzeiten oder medizinische Versorgung zukommen lassen.
Auf Social Media wird aus den «Volksrepubliken» überdies von Zwangsrekrutierungen berichtet: «Sie suchen Wohnungen auf, nehmen Männer direkt auf der Strasse fest», schreibt ein Instagram-User. «Der Bruder meines Freundes wurde mitgenommen», zitiert die Bloggerin Ljudmila Yankina auf Facebook eine Bekannte in Donezk. «Sie sagen, beim Militär sei es wie in einem Gefängnis.» In Luhansk sollen aus einem Bergwerk 800 Arbeiter unter Zwang zum Militärdienst eingezogen worden sein. Sie seien nun in Räumlichkeiten ohne Heizung und Essen untergebracht, schreibt Yankina, «eine moderne Form der Sklaverei». Den Männern drohe nun ein Schicksal als «Kanonenfutter», so die Bloggerin.
Zwei Realitäten seit 2014
Seit bald zehn Jahren kennt die Ukraine unterschiedliche Realitäten. Als es Ende 2013, Anfang 2014 in der Hauptstadt Kiew zu den farbigen Maidan-Demonstrationen kam, beteiligten sich dort unzählige Menschen, die sich zuvor noch nie politisch betätigt hatten, am Protest gegen den korrupten Präsidenten Wiktor Janukowitsch. Die Massen zwangen diesen am Ende zur Flucht.
In den Wochen nach Janukowitschs Abgang offenbarte ein Augenschein in Donezk, wie unglücklich viele Ukrainer:innen im Osten des Landes über die Ereignisse in Kiew waren. Ihnen behagte etwa der Kult vieler Demonstrierender um den Nationalisten Stepan Bandera nicht, der im Zweiten Weltkrieg zeitweise mit der deutschen Wehrmacht zusammengearbeitet hatte. Immer deutlicher zeigte sich in Donezk, wie gewalttätig gegen all jene vorgegangen wurde, die eine andere Sichtweise hatten. Als in der Grossstadt 200 Demonstrierende mit ukrainischen Fahnen in der Hand ihre Loyalität gegenüber Kiew bezeugten, stürzte sich eine weit grössere Menge auf sie, ausgerüstet mit Ketten und Baseballschlägern. Nach dem Ende der proukrainischen Demonstration wurden deren Teilnehmer:innen in Hinterhöfe gejagt und dort zusammengeschlagen.
Sichtbar wurde in Donezk damals auch, wie schnell Patrouillen bewaffneter Männer auftauchten, die Angst einflössten. Die Zentralregierung in Kiew entschied sich zur militärischen Bekämpfung dieser Akteure, die die Abtrennung der Oblaste Donezk und Luhansk anstrebten – während Russland die Aufständischen militärisch, finanziell und materiell unterstützte. Davon zeugte etwa eine Kolonne russischer Militärlastwagen, die in Luhansk einfuhr, aus Richtung der ukrainisch-russischen Grenze im Osten. Über 13 000 Menschen haben in der Ostukraine seither ihr Leben verloren. Hunderttausende sind vom Krieg schwer traumatisiert.
Keine Paketlösung
Mit seiner Anerkennung der «Volksrepubliken» im Donbass hat Wladimir Putin nun viele diplomatische Brücken niedergebrannt, eine Deeskalation des Kriegs scheint nicht absehbar. US-Aussenminister Antony Blinken liess ein geplantes Treffen mit seinem russischen Amtskollegen Sergei Lawrow platzen. Und auch US-Präsident Joe Biden möchte derzeit kein Gespräch mit Putin.
Und trotzdem gibt es keine Alternative zum Dialog. Mögen grosse «Paketlösungen» – etwa eine Modifizierung der Deeskalations- und Befriedungsabkommen von Minsk – bis auf Weiteres unrealistisch sein, so muss die Diplomatie dennoch versuchen, mit kleinen Schritten aus der festgefahrenen Situation zu gelangen. Der grosse Nachteil von umfassenden Abkommen ist der, dass sie als Ganzes infrage gestellt werden, wenn nur ein einziger ihrer Aspekte nicht umgesetzt wird. Es braucht also nicht einen einzigen grossen, sondern viele kleine Verträge.
Dabei muss das erste Ziel darin bestehen, eine Truppenentflechtung und einen Waffenstillstand im Donbass zu erreichen. Und sobald die Waffen schweigen, sollten Uno-Blauhelme zwischen den Fronten positioniert werden. Erst dann lässt sich die Lösung schwierigerer Aufgaben ins Auge fassen, und auch dabei sollte das Prinzip gelten: Die leichteren Aufgaben zuerst; etwa Übereinkommen in humanitären oder die Zusammenarbeit in energiewirtschaftlichen Fragen.
Russland ist Antreiber der aktuellen Eskalation. Gleichwohl gibt es Dinge atmosphärischer Art, die auch vonseiten der Ukraine geleistet werden könnten: etwa der russischen Propaganda den Wind aus den Segeln zu nehmen, wonach die Ukraine ein faschistischer Staat sei. Die Hauptkritik besteht nämlich darin, dass in der einstigen Sowjetrepublik rechtsradikales Gedankengut vorherrsche. Und tatsächlich finden sich in vielen ukrainischen Ortschaften Denkmäler des Nationalistenführers Bandera, in jeder Stadt ist eine Strasse nach dem einstigen Nazikollaborateur benannt. Mit diesem Kult zu brechen, wäre ein erster Schritt, um der Propaganda aus dem Kreml sinnvoll entgegenzutreten.