Pogrom in Zürich: Eine Brücke für Frau Minne

Nr. 16 –

Nur sechs Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Zürich die Uraniabrücke in Rudolf-Brun-Brücke umbenannt – obwohl der so geehrte Stadtherr im Mittelalter in die Vernichtung der jüdischen Gemeinde verstrickt war. Ein neuer Name soll deren Geschichte sichtbarer machen.

Häuser in der Limmat: Die Uraniabrücke (vorne) im Jahr 1933. FOTO: WALTER MITTELHOLZER, ETH-BIBLIOTHEK ZÜRICH

«Im Jahr 1349 nach Gottes Geburt, am Vorabend von Sankt-Matthias, verbrannte man die Juden, weil man sagte, sie hätten Gift in die Brunnen getan.» So lautet der Eintrag – ins Hochdeutsche gesetzt – in der Chronik der Stadt Zürich. Schockierend für heutige Ohren ist nicht zuletzt das unpersönliche «man» – das möglicherweise präzise ist. Es stellt nicht den Pöbel in den Vordergrund, es weist nicht auf eine Behörde. Es umfasst die Gesamtheit. Damit stellt es das Ereignis in eine Reihe von Judenverbrennungen, die in jener Zeit zum fast rituellen Handeln der christlichen Stadtmehrheiten gehörten.

Einer der Ermordeten ist in einem Nürnberger Erinnerungsbuch benannt: «Rabbi Moses und seine Schule in der Stadt Zürich». Die Forschung geht davon aus, dass es sich um Moses ben Menachem handelt, Vorsteher der Zürcher Gemeinde, bedeutender Gelehrter der Talmudauslegung, Sohn einer Frau Minne. Diese war eine offenbar erfolgreiche Geschäftsfrau, verwitwete Vorsteherin einer Familie, Eigentümerin eines Stadtpalais und die Auftraggeberin der Wandmalereien im Stil der berühmten Manessischen Liederhandschrift, die in ihrem Palais gefunden wurden: mit Wappen, Szenen von Musik und Tanz und der anmutigen Begegnung eines reitenden Paares mit einem Falken. Sie sind heute im Kleinmuseum «Schauplatz Brunngasse 8» zu besichtigen.

Abhängig von jüdischen Krediten

Die jüdische Familie lebte von dem, was die Mehrheitsgesellschaft verabscheute und doch brauchte und darum den Jüd:innen zuwies, denen sie sonst fast jede andere Tätigkeit verbot: dem Geldverleih gegen Zinsen. Es gibt einen Vertrag von 1329, demzufolge Mutter Minne, Sohn Moses und Sohn Mordechai dem Grafen von Rapperswil 850 Mark Silber geliehen hatten. Mit einer solchen Summe konnte man, wie ein Vergleich zeigt, die Herrschaft Greifensee kaufen. 1346 stand die Stadt Zürich bei Juden, unter ihnen Moses und sein Sohn Vivlin, mit 1761 Mark Silber plus 85 Goldgulden für Zinsen in der Kreide.

Es war der Übergang zur Geldwirtschaft, man brauchte Kredite, um die Wirtschaftsmühle des frühen Kapitalismus in Schwung zu bringen. Jüd:innen und Lombarden lieferten das Geld, wobei sie sich unbeliebt machten, weil man sich in ihre Schuldabhängigkeit begab. Zehn bis fünfzehn jüdische Familien, vielleicht 150 Personen, lebten im 14. Jahrhundert in der Stadt Zürich, die einige Tausend Menschen zählte. Begraben wurden sie auf dem jüdischen Friedhof vor der Stadtmauer beim heutigen Kunsthaus. Auch Rabbi Moses, so vermuteten Orthodoxe, könnte hier ruhen, vielleicht auf dem noch nie archäologisch untersuchten Teil des Friedhofs.

Mächtigster Stadtherr war zu jener Zeit Rudolf Brun, ein Adliger, der mithilfe der Handwerker 1346 eine veritable Revolution anführte: Sie beteiligte die Handwerkerzünfte am Stadtregime, stärkte den schwindenden Einfluss der Adligen und sicherte ihm selber das Bürgermeisteramt auf Lebenszeit – ausgestattet «mit monarchischen Befugnissen». So der Historiker Anton Largiadèr (1893–1974), der das Regime als «Diktatur» und Brun zugleich als «einen der grössten Staatsmänner aller Jahrhunderte» in Zürich bezeichnete.

Ob Brun am Pogrom von 1349 beteiligt war oder nicht, in welchem Mass er es begünstigte oder sich ihm widersetzte – darüber lässt sich aufgrund der Quellen nur spekulieren. Keine Spekulation aber ist es, Interessenlagen herauszuarbeiten und Ereignisse vor und nach der Ermordung der Jüd:innen zurate zu ziehen.

Immer wieder der Name Brun

Nach kirchlicher Lehre galten die Jüd:innen als «Christusmörder». Und in der Kirche hielt auch die einflussreiche Adelsfamilie Brun Positionen: Ein Verwandter Rudolfs war Chorherr am Grossmünster, ein Sohn sollte dort Probst werden.

Ein früherer Knatsch ist 1324 dokumentiert: Rudolf Bruns älterer Bruder Jakob raubte Jüd:innen Dokumente und wurde deshalb vom Rat gebüsst. Rudolf, offenbar «Brünli» genannt, wurde in die Anschuldigungen einbezogen. Die Art der Dokumente ist unbekannt, aber der Rat forschte über das «verlorene Gut» der Frau Minne und ihrer Tochter – was auf entwendete Schuldscheine hinweist.

Ein späterer Vorgang datiert von 1350, dem Jahr nach dem Pogrom. Rudolf Brun kaufte ein Haus an der heutigen Froschaugasse – welches, ist nicht ganz sicher. Largiadèr nennt es das Haus, «das einem Juden namens Moses gehört hatte», dem Sohn der Frau Minne. Das wäre die Schule oder Synagoge selber. Neuere Historiker:innen formulieren vorsichtiger: Vielleicht war es ein angrenzendes Haus, das einem Juden gehörte, vielleicht auch das Haus eines Nichtjuden. Denn Jüd:innen lebten in Zürich nicht in einem abgeschlossenen Ghetto, sondern Wand an Wand mit Christ:innen.

Klar ist, dass Brun das Haus günstig erwarb. Ausserdem dokumentiert ist: Nach der Ermordung der Jüd:innen zog der Staat, wie es üblich war, deren Vermögen ein. Für die Verteilung gab es eine makabre Kommission. In dieser sass nebst dem Schultheiss und dem Vertreter des Königs auch Rudolf Brun, der Bürgermeister. Die Kommission beschloss am 13. September 1349, dass alle Häuser aus jüdischem Besitz Zürcher Bürger:innen gegeben würden – mit der absurd scheinenden Begründung, dass die Vermögen der Jüd:innen nicht ausreichten, ihre Schulden bei der Stadt zu tilgen. Es ist gesichert, dass Brun bei der Verteilung jüdischen Gutes als Bürgermeister persönlich beteiligt war. Das Haus in der heutigen Froschaugasse wurde mit dem Gemeinderatsbeschluss vom 12. November 1350 an ihn überschrieben.

In Zürich wirkte ein Mechanismus, der auch aus anderen Städten bekannt ist: Nach der physischen Vernichtung der Jüd:innen, der wirtschaftlichen Vernichtung der Schulden und der Aneignung jüdischer Vermögen brauchte man die Jüd:innen trotzdem wie bisher als Kreditgeber. Nur drei Jahre nach dem Pogrom durften zwei erwachsene Kinder eines Moses – möglicherweise des ermordeten Rabbiners – wieder innerhalb der Stadtmauern leben und Geschäfte treiben. Zuvor hatten Vifli und Guota, wie sie hiessen, formell erklärt, dass sie auf ihre Ansprüche an die Stadt verzichteten. Im Februar 1354 erlaubte ein Burgrechtsbrief allen Jüd:innen erneut, in der Stadt «Hausräuke» zu halten – zu wohnen – und Pfand und Zins zu nehmen.

Der geschichtsvergessene «Stapi»

Steht man heute auf der nach Rudolf Brun benannten Brücke, erinnert nichts an die Geschehnisse. Nur Monumente des Christentums – Kirchtürme – ragen rundum in den Himmel. Genau hier führte einst ein hölzerner Steg in die Limmat hinaus zu einer ganzen Reihe von Mühlen: der «Mühlesteg»; bis Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Stadterweiterung eine Bürostadt entstand, erschlossen durch eine breite Strasse von Westen nach Osten. An sie kamen Amtshäuser zu liegen und eine sogenannte «Volkssternwarte», für die ein 51 Meter hoher Turm gebaut wurde. Dieser erste Betonbau Zürichs erhielt den futuristischen Namen Urania-Sternwarte; der Name färbte auf die Brücke über die Limmat ab, die 1911 dem Strassenverkehr übergeben und Uraniabrücke getauft wurde.

Man fragt sich, warum sie später Rudolf-Brun-Brücke heissen sollte. Und findet den Schlüssel in einem zeitgenössischen Politiker: Emil Landolt (FDP), populär geworden als «Stapi». Der langjährige Zunftmeister der Zimmerleute wurde im September 1949 zum Stadtpräsidenten gewählt. Kein Sechseläuten, das er ausliess. Schon im Juli 1950 machte er dem Polizeiamt den Vorschlag, «es möchten auf die Feier der sechshundertjährigen Zugehörigkeit Zürichs zum Bund im Jahre 1951 die Uraniastrasse und die Uraniabrücke in Rudolf-Brun-Strasse und Rudolf-Brun-Brücke umgetauft werden».

Landolt war sich bewusst, dass Brun eine problematische Figur war. Der Text des Historikers und damaligen Zürcher Staatsarchivars Largiadèr mit der Darstellung des Judenpogroms war 1936 publiziert worden. Landolt gestand ein, dass die politischen Motive Bruns «nicht nur ganz uneigennützig» gewesen seien – und setzte sich trotzdem darüber hinweg. Mit dem Vorschlag machte er jedenfalls seinen Zünftern eine Freude. Gleichzeitig befriedigte er konservativ Gesinnte, denen der Name «Uraniabrücke» zu fremd, da «keine so urzürcherische Benennung» war. Der Staatsarchivar nannte in seiner Stellungnahme Brun erneut einen «Diktator». Von der Vernichtung der Juden aber ist im ganzen Verfahren keine Rede. Nur sechs Jahre nach dem Holocaust wollte man offensichtlich nicht zu Vergleichen ermutigen.

Es braucht mehr als einen QR-Code

So wurde aus dem schwankenden Mühlesteg die Rudolf-Brun-Brücke. 1997 verlangte ein Postulat im Gemeinderat deren Umbenennung und wies in der Begründung auf die wichtige Gestalt des Moses ben Menachem hin. Angeregt durch den Film «Brunngasse 8» von Hildegard Keller, doppelt die AL jetzt mit einem etwas anderen Vorschlag nach: Der Stadtrat soll «prüfen, wie die mittelalterliche Geschichte der jüdischen Gemeinschaft, ihre Leistungen und ihre Auslöschung im Jahr 1349 zur Zeit des Bürgermeisters Rudolf Brun im Stadtbild wahrnehmbar gemacht werden» könnte – und zwar «durch Umbenennung der Rudolf-Brun-Brücke in ‹Frau-Minne-Brücke›».

Sobald neues Denken eine neue Benennung zur Diskussion bringt, finden einige, man könne alles belassen und müsse nur einen QR-Code vor Ort anbringen, damit Menschen dann auf ihren Smartphones nachlesen können, was da alles noch zu sagen wäre. Fast einverstanden: Benennen wir die Brücke und die Brunngasse um und bringen QR-Codes an, die zu Informationen darüber führen, wie die Orte früher hiessen und warum. Nur ein QR-Code für das Schicksal der Jüd:innen in Zürich ist zu wenig. An diese Gemeinschaft ist an zentraler Lage in deutlicherer Sprache zu erinnern, mit einer Brücke, die so zur Brücke der Verständigung wird.

Tatsächlich hat die Brücke einen historisch-realen Bezug: Hier, wo die Mühlen standen, ist der Beginn der Industrialisierung Zürichs zu verorten. «Knochenmühlen» nannte die Arbeiterschaft die späteren Fabriken. Eine frühe Industrialisierung, die ohne Kredite nicht möglich gewesen wäre. Kredite von Lombarden, von Jüd:innen und vielleicht von der Familie der Frau Minne.

Das Postulat der AL

Willi Wottreng ist Publizist und Mitinitiant des Postulats, das die Alternative Liste (AL) am 26. Januar im Zürcher Gemeinderat eingereicht hat. Es fordert die Umbenennung nicht nur der Rudolf-Brun-Brücke in «Frau-Minne-Brücke», sondern auch der Brunngasse in «Moses-ben-Menachem-Gasse». Frau Minne, so begründet das Postulat, sei «Stammmutter einer von den Verfolgungen betroffenen wichtigen Familie», ihr Sohn Moses «Verfasser eines wichtigen jüdischen Gesetzeskommentars», des «Zürcher Semaks».