Kost und Logis: Eier und Eierstöcke
Ruth Wysseier fragt sich, wo der Mut sitzt
Die Bärte sind zurück. Der Griff in den Schritt ist zurück. Und nun sind auch die Eier zurück. Nein, nicht die Ostereier, sondern die Testikel, diese Zeugen der Virilität.
Warum soll eigentlich der Mut der Männer in ihren Eiern beheimatet sein? Weil dort nebst den Spermien das ganze Testosteron produziert wird? Weil Männer kein Herz haben und ihr Verstand hormongesteuert ist?
So schrieb Viktor Giacobbo, der auf mich nicht gerade wie ein Ausbund an stahlharter Männlichkeit wirkt, Anfang März auf Twitter: «Na, Freiheitstrychler, wie wär’s, neben Kuhglocken auch mal Eier zu zeigen und jetzt auf dem Maidan in Kiew oder dem Roten Platz in Moskau für die Freiheit zu trycheln?» Und mein geschätzter ehemaliger Kollege Constantin Seibt, eigentlich ein sanfter Mensch mit einem elaborierten Wortschatz, schreibt in einem ansonsten klugen Essay zum Krieg, Wolodimir Selenski habe Eier so gross wie Melonen.
Und die Frauen? Marina Owsjannikowa, da sind sich alle einig, ist eine mutige Frau. Die Journalistin protestierte am 14. März live im russischen Staatsfernsehen gegen Putins Krieg in der Ukraine. Sie war ins Nachrichtenstudio eingedrungen und hatte ein Plakat in die Kamera gehalten. In einem Video appellierte sie an die Bevölkerung: «Geht auf die Strasse! Habt keine Angst, sie können uns nicht alle einsperren!» Für ihren Mut wurde Owsjannikowa in unzähligen Kommentaren gelobt, man war sich einig, dass sie mit ihrem Protest die Verbannung in ein Straflager riskierte.
Haben Frauen also auch Eier? Owsjannikowa ist Mutter von zwei Kindern, sie hat Eierstöcke. Doch wem käme in den Sinn, dass der Mut einer Frau in ihren Eierstöcken sitzt? Mutige Frauen sind beherzt, nicht beeiert.
Übrigens: Auch russische Männer haben Eier. Der russische Oligarch Wiktor Wekselberg, geschätzte 5,5 Milliarden US-Dollar reich, hat seinen Wohnsitz im Kanton Zug und Beteiligungen an Sulzer, OC Oerlikon und anderen Firmen. Er besitzt neun Fabergé-Eier, nur eins weniger als der Kreml. Insgesamt hatte der St. Petersburger Goldschmied Peter Carl Fabergé 52 Eier aus Gold und Edelsteinen hergestellt, die meisten im Auftrag der Zaren. Die USA haben kürzlich Wekselbergs privaten Airbus und seine Jacht beschlagnahmt. Die Schweizer Behörden behandeln ihn dagegen so behutsam wie ein rohes Ei.
In den achtziger Jahren kannte ich junge Männer, die ein obsessives Verhältnis zu ihren Eiern hatten. Sie gehörten zur Avantgarde der «Hodebädeler». In einem gemeinsamen Ritual badeten sie ihre Hoden täglich 45 Minuten in 45-grädigem Wasser, um die Spermienproduktion zu unterdrücken – als Beitrag zur Verhütung, nicht um harte oder melonengrosse Eier zu bekommen. Irgendwie auch mutig, fand ich. Aber zugegeben, das war eine ganz andere Epoche, da stellten wir das Prinzip der Männlichkeit infrage und beschäftigten uns allen Ernstes mit der Abschaffung des Patriarchats.
PS: Männer mit kleinen Hoden sollen übrigens die fürsorglicheren Väter sein.
Ruth Wysseier ist Winzerin am Bielersee.