Pottwalgesänge: Immer dem Klicken nach

Nr. 19 –

Jahrhundertelang wurden Pottwale gejagt. Heute bedrohen sie Lärm, Verschmutzung und steigende Wassertemperaturen. Unterwegs mit dem italienischen Meeresbiologen Nino Pierantonio, der die Wale über ihren einzigartigen Gesang erforscht.

Mittelmeerpottwale verwenden einen Dialekt, der im Pazifik nicht nachgewiesen werden konnte: Ein Physeter macrocephalus erleichtert sich im Ligurischen Meer. Foto: Alamy

Eingezwängt zwischen Schreibtisch und holzgetäfelter Wand hört Nino Pierantonio dem Meer zu. Mit zusammengekniffenen Augen blickt er auf den Monitor, lauscht den Geräuschen auf seinem Kopfhörer und verfolgt die Tonspur, die sich als gezackte grüne Linie über den Bildschirm bewegt. «Im Moment höre ich nur die Fähre, das ist dieser Graph», sagt Pierantonio und zeigt auf den Monitor. Im Bauch des Segelboots Pelagos wartet er auf ein anderes Geräusch. Manchmal passiert den ganzen Tag nichts. Dann werden am Abend die Messgeräte wieder eingepackt, das Boot unverrichteter Dinge im Hafen von San Remo geparkt. Um zu erklären, wonach er sucht, schnalzt Pierantonio dreimal mit der Zunge, es klingt wie eine Art Klicken: Er wartet auf das Geräusch eines singenden Pottwals.

«Pottwale sind kommunikative Tiere, etwa achtzig Prozent der Zeit machen sie Geräusche», sagt der Forscher. Bis zu 200 Klicks kann der grösste aller Zahnwale pro Sekunde produzieren, je näher er seinem Futter kommt, desto häufiger wird geklickt. Eine kurze Pause bedeutet: Er frisst – vor allem Tintenfische, die er in grosser Tiefe erbeutet, aber auch Kabeljau, Thunfisch, kleinere Haie oder grössere Krustentiere.

Den Wal verstehen lernen

Seit Beginn des 19. Jahrhunderts wurden Pottwale, die in allen Weltmeeren zu Hause sind, für ihr Fett, ihr Fleisch und ihren Tran bejagt. Besonders begehrt: Ambra, ein Stoff aus dem Darm der Wale, der bis heute zur Parfümherstellung genutzt wird, und aus dem Kopf Spermazeti, auch Walrat genannt, verwendet für Salben, Kerzen und Kosmetika. Obwohl kommerzieller Walfang 1986 von der Internationalen Walfangkommission verboten wurde, bejagen etwa japanische Fischer Pottwale unter dem Label des wissenschaftlichen Walfangs weiterhin.

Bis heute hat sich die Population nicht erholt. Die International Union for the Conservation of Nature (IUCN) listet die Spezies auf ihrer Gefährdungsskala als «vulnerable», im Mittelmeer seit 2006 sogar eine Stufe schärfer: «endangered», gefährdet. Forscher:innen schätzen die Population dort auf nur rund 200 Tiere.

Und da sind weitere Gefahren: im Meer treibende, verlorene Fischernetze – sogenannte Geisternetze –, in denen sich die Wale verheddern können, am Meeresboden verlaufende Seekabel, dort, wo Pottwale auf Nahrungssuche gehen, die Kollision mit Schiffen und die steigenden Meerestemperaturen. Vor allem aber der seit Jahrzehnten zunehmende Lärm stört die Tiere. Das Brummen von immer mehr Schiffen – die Schallbelastung entlang grosser Schifffahrtswege ist schätzungsweise 32-mal so hoch wie vor fünfzig Jahren –, der Bau und Betrieb von Windenergieanlagen, das piepende Sonar der Fischerei, militärische Erkundungen oder das Wummern von Schallkanonen zur Suche nach Öl- und Gaslagerstätten. All das stört die Wale, deren wichtigster Sinn das Gehör ist.

1953 hat die US Navy zum ersten Mal einen Pottwal auf Tonband aufgenommen. «Vorher war nicht bekannt, dass Pottwale Geräusche machen», sagt Pierantonio. Vier Monate im Jahr verbringt der Biologe auf dem Segelboot im Mittelmeer und folgt dem Klicken der Pottwale, er leitet die Feldforschung für die italienische NGO Tethys. Das Tethys Research Institute wurde 1986 gegründet und hat sich der Forschung zu und dem Schutz von Meeressäugern im Mittelmeer verschrieben. 35 Wissenschaftler:innen widmen sich Walen und Delfinen, aber auch Mönchsrobben und Meeresschildkröten. Ihr Ziel ist es, mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Erhalt der Meereswelt beizutragen.

Odontoceti, Zahnwale, zu denen der Pottwal gehört, sind für Pierantonio die interessantesten Wale. Ihre im Gegensatz zu melodisch singenden Walen kurzen, harten Klickgeräusche faszinieren ihn. Die Geräusche funktionieren ähnlich wie ein Sonar, über das Echo können die Wale navigieren, kommunizieren, Nahrung orten. Er will verstehen, warum die Wale das Klicken nutzen und wann und wie sie es einsetzen – so liessen sich Rückschlüsse auf Alter, Grösse und Verhaltensweise ziehen.

Anders als andere Wale nutzen Pottwale keine Pfeiftöne zur sozialen Interaktion. Statt mit dem Kehlkopf produzieren sie ihre Töne mit der Nase, ganz vorne an der Spitze. Rechts und links des Blaslochs befinden sich eine Art Lippen, durch die sie Luft pressen, so senden die Wale Töne ins Meer. Einen Teil der dafür nötigen Energie recyceln sie – diese wandert wiederum in Form eines Tons von der Nase durch den Kopf, wird von dem konkaven Knochen, der den Kopf vom Körper trennt, zurückgeworfen und tritt vorne wieder aus. Misst man die Zeitspanne, die der Ton braucht, um den Kopf zu durchqueren, lässt sich die Körpergrösse genau bestimmen. «Pottwale sind ehrliche Tiere, sie können einfach nicht lügen», sagt Pierantonio: Sich etwa über den Gesang grösser machen, als sie sind, können sie nicht.

22 Kilo Plastik

Wellen schaukeln das Schiff hin und her, die Sonnenspiegelung blendet selbst durch das kleine Bullauge. Unter Deck staut sich die Hitze, auf Pierantonios Stirn haben sich Schweissperlen gebildet. Dann ist da endlich ein Geräusch, Pierantonios Augen weiten sich. Es klickt, ungefähr einmal pro Sekunde. Das Geräusch ist kurz, es klingt ein wenig, als würde der Wal morsen. Der Pottwal wird lauter, sein Gesang schneller – dann verstummt er: das Zeichen, dass er auftaucht.

Auf dem Segelboot geht jetzt alles schnell. Pierantonio zieht sich den Kopfhörer vom Kopf, zwängt sich aus der Sitzecke, greift nach Fernglas und Kamera und spurtet an Deck. «Das Klicken hat aufgehört», ruft er übers Boot. Sein Team aus fünf angehenden Wissenschaftler:innen – die meisten studieren Biologie und nutzen die Zeit an Bord zur praktischen Forschung – macht sich bereit. Die Crew sucht das Meer nach einem Zeichen ab: einer Rückenflosse, einer Blaswolke, einer Bewegung.

Einmal hätten sie eine ganze Familie Pottwale gesichtet, öfter treffe man hier aber junge Bullen. Während sich Weibchen mit ihren Jungtieren zu sozialen Verbänden von rund zwanzig Tieren in eher wärmeren Gewässern zusammentun, sind Bullen erst in kleinen Gruppen unterwegs. Je älter sie werden, desto eher sind sie allein und bis in die Polarregionen zu finden.

Gut sechs Minuten dauert es, bis der Wal von seinem halbstündigen Tauchgang in bis zu tausend Metern Tiefe an die Oberfläche kommt. Sechs Minuten, in denen die Forscher:innen dem Tier möglichst nahe kommen wollen. «Der Wal kommt relativ gerade nach oben, aber er macht in der Zeit keine Geräusche. Wir können nur schätzen, wo er auftaucht», hat Pierantonio zuvor erklärt.

Die Sonne mit der Hand abgeschirmt, steht er nun am Bug. «Da!», ruft er, «30 Grad Nordwest!» Eine Blaswolke, Hunderte Meter entfernt. Die Atemwolke steigt im 45-Grad-Winkel nach vorn in die Höhe. Der Skipper dreht das Boot und beschleunigt. Wieder atmet der Wal, diesmal ist die Wolke näher. Pierantonio verfolgt sie durchs Fernglas, dann bedeutet er dem Skipper, langsamer zu werden.

Das Boot schaukelt nur noch, jetzt ist der Wal so nah, dass man meint, man könne die Hand nach ihm ausstrecken. Pierantonios Kamera klickt ununterbrochen. Der Wal ist offenbar entspannt. Neun Minuten bleibt er an der Wasseroberfläche; jede Bewegung wird fotografiert, jedes Ausatmen notiert. Alle zwanzig Sekunden nimmt er einen Atemzug, schliesslich zeigt er seine Fluke – die Schwanzflosse – und taucht ab.

Mit einem langen Kescher in der Hand beugt sich Pierantonio über die Reling und fischt die Reste, die das Tier zurückgelassen hat, aus dem Wasser. Kleine schwarze Brocken landen im feinmaschigen, sackartigen Netz des Keschers. «Der Walkot ist gross wie ein Basketball», sagt Pierantonio, «er zerfällt aber sofort.» Im Labor wird später analysiert, was dieser Pottwal gefressen hat, auch Mikroplastik lässt sich so nachweisen. Plastik ist ein Problem für die Wale: Während die millimeterkleinen Partikel in giftige Bestandteile zerfallen, werden grosse Plastikteile irrtümlich für Tintenfische oder Quallen gehalten. 2019 strandete ein trächtiges Pottwalweibchen vor Sardinien – im Bauch 22 Kilo Plastik.

Die Fluke als Passfoto

Mittagspause auf dem Meer. Es gibt Pasta und Salat im Schatten des Sonnensegels. Seit dem frühen Morgen kreuzt der Segler im Dienst des Tethys Research Institute vor der italienisch-französischen Küste. Es ist das Gebiet des Pelagos Sanctuary, eines 87 500 Quadratkilometer grossen Meeresschutzgebiets, das das nördliche Mittelmeer zwischen Monaco, Norditalien und Korsika umfasst und bis an die Nordküste von Sardinien reicht. Es ist einer der wichtigsten Futtergründe des Mittelmeers, entsprechend hoch ist die Konzentration an Walen und Delfinen. 1999 auf Bestreben von Tethys, Greenpeace und der Universität Barcelona gegründet, gehört das Schutzgebiet inzwischen zum Umweltprogramm der Uno.

Bevor Pierantonio zu den Pottwalen kam, betreute er ein Delfinprojekt vor der Westküste Griechenlands. «Delfine singen auf einer hohen Frequenz», sagt Pierantonio und pfeift ein paar Töne, «Pottwale klingen ähnlich.» Allerdings auf einer tiefen Frequenz von höchstens 24 Kilohertz. Obwohl Pottwale sehr laut sind – 190 Dezibel wurden schon gemessen –, sind sie in dieser Frequenz für Menschen nicht hörbar.

Pierantonios Ohr unter Wasser ist ein unscheinbares Messgerät. Das Hydrofon hängt an einem 200 Meter langen, orangen Kabel hinter dem Boot im Meer. Es wandelt die Schallwellen, die sich unter Wasser schneller ausbreiten als in der Luft, in hörbare Signale und auf dem Bildschirm ablesbare Kurven um.

Unter Deck tippt Pierantonio die Daten der Walbegegnung in die Datenbank. Geo- und Wetterangaben, Uhrzeit, Aufenthaltszeit des Wals an der Oberfläche, Atemstösse, die Tonaufnahme des Tiers. Verknüpft mit den Fotos, die das Team geschossen hat, erhält man ein Walporträt mit der Fluke als Passfoto – die Schwanzflosse ist so etwas wie der Fingerabdruck eines Wals, individuell und einzigartig. Indikatoren sind etwa Farbe, Noppen, Verletzungen.

Unseren Wal schätzt Pierantonio auf gut zwölf Meter Länge, allein der Kopf sei vier Meter lang. Weil er allein unterwegs ist: vermutlich ein Männchen. Wie alt? Schwer zu sagen. In den ersten zehn Jahren sind beide Geschlechter etwa gleich gross. Während Weibchen aber mit dreissig Jahren und etwa zwölf Metern ausgewachsen sind, dauert es bei den Bullen bis zum 50. Lebensjahr – sie werden bis zu zwanzig Meter lang. Ein ausgewachsener Pottwal kann bis zu fünfzig Tonnen schwer werden. Im Mittelmeer sind die Tiere kleiner als ihre Artgenossen im Atlantik – warum, ist eine offene Frage.

Manche der Wale kennen die Forscher:innen von Tethys seit Mitte der neunziger Jahre. Langzeitdatenreihen helfen ihnen, die Wale zu verstehen. So wurde beispielsweise herausgefunden, dass Mittelmeerpottwale einen Dialekt verwenden, der im Pazifik nicht nachgewiesen werden konnte. Dessen Bedeutung kenne man noch nicht, so Pierantonio. Auch Wanderrouten und Winterplätze im Mittelmeer seien weitgehend unerforscht, Geld gibt es für solch lang andauernde Projekte kaum. Tethys finanziert sie zum grossen Teil über Citizen Science: Jede und jeder kann sich gegen Geld eine Woche auf dem Forschungssegler einmieten und Pierantonio über die Schulter schauen.

Unter Deck klickt sich der Forscher durch Fotos vergangener Walsichtungen – und findet die Fluke unseres Wals in der Datenbank. Dieser Wal wurde schon einmal gesichtet, mehrfach sogar, das erste Mal vor zwanzig Jahren. Und: Der hellgraue Pottwal ist ein Weibchen und hat den Namen Sabina bekommen. Pierantonio ruft die Kunde durchs Boot, das inzwischen gen Westen segelt. Ziel ist ein Unterwassercanyon vor der Küste Monacos, aufgrund seines Mikroklimas ist das Meer dort besonders nährstoffreich.

Nino Pierantonio Foto: Katrin Groth

Pierantonio greift nach seinem Kopfhörer, die grün gezackte Linie wandert vor ihm über den Bildschirm. Er lauscht – ganz leise hat wieder ein Pottwal zu klicken begonnen.