Akustische Forensik: Hellhörige Beweisführung

Nr. 5 –

Gesprächsfetzen, Pistolenschüsse und das Sirren von Drohnen: Die Organisation Earshot untersucht Geräusche, um Menschenrechtsverletzungen aufzudecken. Oft ist dabei der Staat der Verbrecher.

Screenshot einer visuellen Darstellung einer Audioaufnahme
Auch diese Tonspur wurde von der Organisation Earshot analysiert: Woher kamen die Schüsse während eines Notrufs im Gazastreifen? Screenshot: Earshot

Nahel Merzouk wird an einem sonnigen Morgen im Juni 2023 erschossen. Mitten im Berufsverkehr im Pariser Vorort Nanterre richtet ein Polizist seine Waffe auf den Siebzehnjährigen, der mit zwei Freunden in einem Mercedes unterwegs ist, und tötet ihn aus nächster Nähe. Passant:innen filmen den Vorfall. Ein Video zeigt, wie zwei Polizisten sich durchs Fenster zum Fahrer hineinlehnen. Als Merzouk plötzlich Gas gibt, ertönt ein Schuss. Der Wagen fährt noch ein Stück weiter, dann prallt er gegen ein Hindernis und kommt zum Stehen. Um 9.15 Uhr ist Merzouk tot.

Der tödliche Schuss auf den französischen Jugendlichen marokkanisch-algerischer Herkunft löste in Frankreich heftige Proteste aus. Vielen galt er als Symptom eines rassistischen Systems, das mit übermässiger Härte gegen Jugendliche mit Migrationshintergrund vorgeht. Dass ein Polizist einen unbewaffneten Minderjährigen getötet hat, steht ausser Frage. Doch warum der Polizist schoss, zeigen die Bilder nicht. War es Selbstverteidigung, wie der Beamte behauptete? Oder war es Mord, Ausdruck rassistischer Polizeigewalt? Die Antwort könnte in einer fünf Sekunden langen Tonaufnahme liegen, die den Wortwechsel zwischen Polizist und Opfer unmittelbar vor der Tat enthält.

«Die ganze Debatte drehte sich um diesen Abschnitt hier, der unverständlich bleibt», sagt Lawrence Abu Hamdan und deutet auf ein paar verschwommene orange Flecken auf dem Bildschirm seines Laptops. Die Flecken sind Teil eines Spektrogramms, einer bildlichen Darstellung von Tonfrequenzen. Dort, wo die Flecken dichter werden, sagt jemand etwas. Doch wer? Und was? Das sei aufgrund der schlechten Audioqualität der Handyvideos zunächst nicht nachvollziehbar gewesen, sagt Abu Hamdan.

Die entscheidenden Sekunden

Lawrence Abu Hamdan (39) bezeichnet sich selbst als «private ear», nach dem englischen Begriff «private eye» für Privatdetektiv. Als Ermittler geht er akustischen Beweisen nach. Im Herbst 2023 hat er die Organisation Earshot gegründet. Die Tötung von Nahel Merzouk war der erste Fall des dreiköpfigen Teams. Abu Hamdan und seine Kolleg:innen nutzten spezielle Software, um die entscheidenden Sekunden der Aufnahme digital aufzubessern und zu analysieren. Was sie dabei entdeckten, könnte zur Aufklärung der Tat beitragen.

Im April 2024 trifft sich das Team von Earshot in London. Abu Hamdan trägt ein Holzfällerhemd und eine Brille mit dickem Rahmen. Seit mehr als fünfzehn Jahren beschäftigt sich der britisch-libanesische Forscher und Künstler mit akustischen Recherchen. Er hat dazu promoviert, mit Organisationen wie Amnesty International zusammengearbeitet und Recherchen in internationalen Medien veröffentlicht. Auch in Kunstausstellungen hat er seine Ergebnisse präsentiert und dafür 2019 den Turner Prize erhalten.

Die Arbeit von Earshot baut auf den Methoden der forensischen Linguistik auf, einer Disziplin, die sich mit Sprache im Kontext kriminalistischer Ermittlungsverfahren beschäftigt. Doch während forensische Linguist:innen klassischerweise im Auftrag staatlicher Strafverfolgungsbehörden arbeiten, hat sich Earshot der Ermittlung von Menschenrechtsverletzungen verschrieben, bei denen der Staat zum Täter wird. «In der Menschenrechtsarbeit werden akustische Beweise gegenüber visuellen noch als minderwertig wahrgenommen», sagt Abu Hamdan.

Computerspiel über Lärmbelastung

Normalerweise arbeiten Abu Hamdan und sein Team in einem Büro im Südosten von London. Weil dort gerade die Stromleitungen repariert werden, sitzt Abu Hamdan heute in der Wohnung seiner Schwester am nördlichen Rand des Hyde Park. Zusammen mit seinem Kollegen Fabio Claudio Cervi hat er sich an einem grossen Tisch im Wohnzimmer eingerichtet. Sie haben ihren sogenannten Supercomputer und ein Mikrofon aufgebaut, auf dem Tisch liegen Soundkarten, die an den PC angeschlossen werden können, ein Skizzenbuch, Kopfhörer und Speicherkarten. Cervi arbeitet gerade an einem Langzeitprojekt von Earshot: einem Computerspiel über Lärmbelästigung. Während er programmiert, beantworten er und Abu Hamdan die Fragen eines Journalisten der «Washington Post», in deren Auftrag sie eine akustische Recherche gemacht haben.

Zur Audioermittlung kam Abu Hamdan 2009 nach einem Treffen mit dem forensischen Linguisten Peter French, der an Tausenden polizeilichen Ermittlungen im Vereinigten Königreich beteiligt war. «French hörte sich teilweise drei Tage lang immer wieder eine einzige Silbe an», erzählt Abu Hamdan. «Seine Aufmerksamkeit für linguistische Details war bahnbrechend.» French untersuchte beispielsweise, ob ein Angeklagter vor Gericht wirklich etwas anderes behauptete als im Verhör oder ob eventuell sein starker Dialekt für Missverständnisse sorgte. Später fingen French und seine Kolleg:innen an, sich etwa auch die Geräuschkulissen im Hintergrund von Notrufen anzuhören. «So erweiterten die Linguist:innen ihre Hörhorizonte, um nicht nur menschliche Stimmen zu analysieren, sondern auch die Stimmen von Körpern, Architektur, Munition und Infrastruktur», schrieb Abu Hamdan in seiner Doktorarbeit.

Auch die Arbeit von Earshot geht über die Analyse von Sprache hinaus. So hat Fabio Claudio Cervi den «supersonischen Kompass» entwickelt, um zum Beispiel Schüsse in Handyvideos zu untersuchen: «Unser Tool simuliert die Bewegung des Geschosses und verrät mithilfe der Position der aufnehmenden Kamera den Standpunkt der schiessenden Person», erklärt Cervi. Damit lassen sich die Aussagen von Augen- und Ohrenzeug:innen untermauern oder auch widerlegen. Um zu prüfen, ob Tonaufnahmen gefälscht sind, lauscht das Earshot-Team zum Beispiel auf elektromagnetische Störgeräusche im Hintergrund: «Wir hören uns die Geräusche an, die das Gehirn normalerweise ausblendet.» In einem Korruptionsfall konnte Earshot feststellen, dass geleakte Aufnahmen von Regierungsbeamten authentisch waren. «Die Störgeräusche blieben durchgehend gleich», erklärt Abu Hamdan. Kein Abschnitt sei im Nachhinein entfernt oder hinzugefügt worden.

Es klingelt auf Cervis Bildschirm: Die italienische Organisation Liminal ruft an, weil sie herausfinden will, welchen Drohnen und anderen Flugkörpern Migrant:innen bei der Überquerung des Mittelmeers begegnet sind. Die Analyse von Drohnengeräuschen gehört zum Alltag von Earshot. Ende 2023 untersuchte das Team gemeinsam mit Amnesty International die Geräusche einer israelischen Drohne. Sie war in einem Video von Journalist:innen zu hören, die im Süden des Libanon von einem israelischen Panzergeschoss getroffen wurden. Der Reuters-Reporter Issam Abdallah wurde getötet, sechs weitere Journalist:innen verletzt.

Abu Hamdan spielt das Drohnengeräusch auf seinem PC ab: ein penetrantes Sirren, Vorbote des Todes und akustischer Inbegriff automatisierter Kriegsführung. «Die Wellenbewegung der Frequenz sagt uns etwas über die Bewegung dieser Drohne», erklärt Abu Hamdan. Der Ton wird höher und lauter, wenn die Drohne sich nähert. Und tiefer, wenn sie sich entfernt. Weil ihr Motor an der Hinterseite sitzt, ist die Drohne am lautesten in dem Moment, in dem sie sich abwendet und wegfliegt. «Anhand von Lautstärke und Frequenz haben wir verstanden, dass die Drohne vor dem Angriff 43 Minuten lang über den Journalist:innen kreiste.» Genug Zeit für die Angreifer:innen, um zu wissen, dass sie nicht auf militärische Ziele, sondern auf die Presse schiessen.

Verfahren gegen Polizist:innen

Strafverfolgungsbehörden haben mehr Möglichkeiten. Sie können zum Beispiel auf das Video zugreifen, das die Drohnenkamera aufgezeichnet hat, oder auf die Bodycams von Polizist:innen, die jemanden getötet oder verletzt haben. Die Arbeit von Earshot aber fängt dort an, wo der Staat die Ermittlungen einstellt, manipuliert oder verschleppt – oder wo die Sorge besteht, dass das passieren könnte.

Wie im Fall von Nahel Merzouk. Die Ermittlungen gegen den Beamten laufen zwar noch, doch seit November 2023 ist er auf freiem Fuss. Statistiken zeigen, dass Verfahren gegen Polizist:innen viel öfter eingestellt werden als gegen andere Tatverdächtige. Es sind Fälle wie diese, bei denen Abu Hamdan und seine Kolleg:innen genau hinhören. «Wenn unsere Beweismittel es auch nicht in den Gerichtssaal schaffen, so können wir zumindest Druck ausüben, indem wir für die Ergebnisse unserer Ermittlungen eintreten und sie der Öffentlichkeit bewusst machen.»

Nachdem das Earshot-Team die Audiospur der Videos vom Tatort bearbeitet hatte, wurde deutlich, was vor dem Schuss gesagt wurde: «Coupe», die französische Aufforderung, den Motor abzustellen. Und «Pousse-toi», umgangssprachlich für: «Aus dem Weg!» Kontext und Jargon könnten nahelegen, dass Merzouk «Aus dem Weg!» rief, um dann aufs Gas zu treten, zu flüchten. Das behaupteten zunächst auch französische Medien.

Earshot aber fand heraus: Die beiden Aussagen müssen von derselben Stimme stammen. Dass der Polizist nicht nur ­«Coupe» sagte, sondern auch «Pousse-toi», wird dadurch klar, dass die Frequenzen beider Aussagen übereinstimmen, wie Abu Hamdan erklärt: «Wenn die Stimme aus dem Inneren des Autos käme, von der Wand reflektiert würde und dann auf das Handymikrofon träfe, müsste sie auf dem Spektrum ganz anders aussehen als die Stimme ausserhalb des Autos.»

Es war dieselbe Stimme

Earshot erhebt mit seinen Analysen keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder absolute Wahrheit. «Wir sprechen immer nur über Wahrscheinlichkeiten», so Abu Hamdan. «Und wir machen transparent, wie wir zu unseren Ergebnissen kommen.» Eine Ermittlung wie die zu Merzouk kann keinen Fall lösen, aber sie kann entscheidende Fragen aufwerfen.

Zum Beispiel diese: Warum sagte der Polizist «Aus dem Weg» zu einem Jugendlichen, dem er gerade befohlen hatte, den Motor abzustellen, während er eine Pistole auf ihn richtete? Abu Hamdan hat eine Theorie: «Wenn der Polizist die Aufforderung nicht an Merzouk, sondern an seinen Kollegen richtet – ‹Aus dem Weg›, weil ich gleich schiesse –, dann hat Nahel in dem Moment verstanden, was passieren wird, und ist losgefahren, um sein Leben zu retten.»

Zu seinem Beifahrer soll Merzouk noch gesagt haben: «Er ist verrückt, er hat auf mich geschossen.» Dann starb er.

Dieser Text erschien zuerst in «Science Notes. Das Magazin für Wissen und Gesellschaft».