Artenschutz: Die Botschaft der rosa Delfine

Nr. 32 –

Der Kolumbianer Fernando Trujillo hat sich der Rettung der sagenumwobenen Amazonasdelfine verschrieben. Unterwegs mit dem Forscher auf dem mächtigen Orinocofluss.

  • Fernando Trujillo trägt einen Babydelfin aus dem Orinoco. Foto: Philipp Lichterbeck
  • Die Mutterkuh wird mit einem GPS-Sender bestückt. Foto: Philipp Lichterbeck
  • Ständige Bewässerung und eine Liegematratze sollen den Stress des Tieres mindern. Foto: Philipp Lichterbeck
  • Die Schwanzflosse bewegt 180 Kilogramm Flussdelfin. Foto: Philipp Lichterbeck

Kaum ist die Finne des Delfins aus dem Orinoco aufgetaucht, rast das Fischerboot heran und zieht einen Kreis um die Stelle. Einer der Fischer wirft ein Netz aus, mehrere Männer springen ins brusthohe Wasser und schliessen es. Nach einiger Zeit schlägt der Delfin mit der Schwanzflosse, er hat sich in den Maschen verfangen. Sofort packen die Männer ihn. Es ist ein kolossales Exemplar, das jetzt von fünf Fischern auf eine Sandbank getragen wird. Ein sechster drückt ihm das lange, schnabelförmige Maul mit den vier Reihen scharfer Zähne zu. Auffällig sind die rosa Stellen auf Kopf und Unterseite.

Die auf den ersten Blick brutale Aktion dient der Rettung der sagenumwobenen Amazonasdelfine. Die Art, die wegen ihrer Pigmentierung oft auch als «rosa Delfin» bezeichnet wird, gilt als vom Aussterben bedroht. Daher wollen die Umweltschutzorganisation World Wide Fund for Nature (WWF) und die kolumbianische NGO Omacha insgesamt fünfzig Flussdelfine in fünf Ländern mit GPS-Sendern bestücken. Es geht darum, mehr über die Aufenthaltsorte der relativ wenig erforschten Säugetiere zu erfahren. Vor wenigen Monaten lief das Projekt in Brasilien und Bolivien an. Nun wird es hier im Südosten Kolumbiens am mächtigen Orinocofluss im Grenzgebiet zu Venezuela fortgeführt.

Bedrohung Quecksilber

«Wir haben ideale Bedingungen», sagt Fernando Trujillo, der Leiter der Mission. Wegen der Trockenheit liegt der Wasserspiegel des Orinoco rund fünfzehn Meter unter demjenigen der Regenzeit, und die Delfine haben sich in den flachen Buchten zum Jagen versammelt. «Sie schlagen sich die Mägen voll», sagt Trujillo.

Der fünfzigjährige Kolumbianer gilt als wichtigster Experte für Flussdelfine. Vor dreissig Jahren riet ihm der Meeresbiologe und Filmemacher Jacques Cousteau zu dieser Spezialisierung. Es sei wissenschaftliches Neuland. «Die Delfine haben mich seitdem nicht mehr losgelassen», sagt Trujillo. Später gründete er Omacha, deren Ziel die Erforschung von Süsswassersäugern ist.

Die GPS-Markierung der Delfine will Trujillo nun auch nutzen, um den Tieren Gewebeproben zu entnehmen, die er dann auf ihren Quecksilbergehalt untersuchen kann. Das hochgiftige Schwermetall, das aus Tausenden illegalen Goldgewinnungsanlagen stammt, ist eine der grössten Bedrohungen für die Amazonasregion. Sogar in abgelegensten Indiodörfern hat man schon derart hohe Quecksilberkonzentrationen bei Kindern festgestellt, dass schwere Entwicklungsstörungen und frühzeitiger Tod absehbar sind. «Es kommen Babys mit sechs Fingern zur Welt», erzählt Trujillo. «Manche Indios haben Gedächtnisverlust und Nervenstörungen, sie können nichts mehr riechen und schmecken.»

Das Amazonasbecken beherbergt den grössten Urwald der Erde und zwanzig Prozent der weltweiten Süsswasservorkommen. Aber es ist kein unberührtes Paradies mehr, sondern ein wachsender Wirtschaftsraum mit mehr als dreissig Millionen EinwohnerInnen. Diese konsumieren Energie, Nahrung, brauchen Infrastruktur und Arbeit. Wissenschaftler wie der US-Biologe Thomas Lovejoy und der brasilianische Klimatologe Carlos Nobre glauben, dass das Limit der menschlichen Expansion bald erreicht sein und das ökologische Gleichgewicht der Region kippen könnte. Sie sehen den Kipppunkt bei 20 bis 25 Prozent Abholzung. Dann würde der komplexe Wasserkreislauf der Region zusammenbrechen. Das hätte unvorhersehbare Folgen für ganz Südamerika.

Trujillo sieht den Flussdelfin daher auch als Chance, mehr Bewusstsein für die Bedrohungen zu schaffen. «Er könnte zum Botschafter des Amazonas werden», sagt er. «Der Delfin ist ein Sympathieträger.»

GPS-Sender in der Flosse

Fernando Trujillo, der mit seinem wilden Bart und dem Kopftuch wie ein Flusspirat wirkt, hilft nun mit, das gerade gefangene Tier auf eine Matratze zu wuchten. Die soll verhindern, dass die Körpermasse des Tieres zu hohen Druck auf die Delfinlunge ausübt. Kaum liegt der Delfin, breiten Trujillo und seine MitarbeiterInnen nasse Handtücher über ihn aus, die sie mit Wasser tränken. Um das Tier zu beruhigen, bedecken sie auch die Augen, die nur wenig grösser als Stecknadelköpfe sind. Zur Orientierung dient den Amazonasdelfinen ähnlich wie den Fledermäusen ein komplexes auf Ultraschall basierendes System. Aus der hohen Stirn sendet das Tier Schallsignale aus, deren Echo es mit den Rezeptoren im Unterkiefer auffängt und in Sekundenbruchteilen zu einem Bild seiner Umgebung zusammensetzen kann. So lokalisieren Delfine auch ihre Beutefische.

Eine Mitarbeiterin Trujillos drückt nun auf eine Stoppuhr und ruft: «Zehn Minuten!» Es ist die Zeit, die das Team hat, um alle Operationen auszuführen. «Theoretisch könnten die Delfine auch sehr viel länger an Land aushalten», meint sie, «aber wir wollen sie nicht unnötigem Stress aussetzen.» Sofort beginnt eine eingespielte Prozedur. Eine Veterinärin misst mit einem Stethoskop den Herzschlag des Delfins. «Im grünen Bereich», sagt sie. Dann beobachtet sie das Atemloch, das sich gerade öffnet und wieder schliesst. Atmet der Delfin nicht mindestens dreimal pro Minute, steht er unter grossem Stress, und die ForscherInnen müssen ihre Aktion frühzeitig abbrechen. Bisher aber lässt er die Prozedur entspannt über sich ergehen.

Bevor der schwierigste Teil kommt – das Anbringen des GPS-Senders –, wird der Delfin vermessen und sein Geschlecht bestimmt. Es ist ein Weibchen, 2,14 Meter lang. «Schöner Brocken», ruft Trujillo. Dann entnimmt eine Biologin Sekretproben aus Maul, Atemloch, After und Vagina. Sie schneidet auch ein winziges Stück aus der Schwanzflosse des Tieres. Es wird dazu dienen, die Quecksilberbelastung festzustellen.

Unterdessen hat die Veterinärin drei Spritzen mit Betäubungsmittel in die Rückenflosse gepresst. «Man kriegt das Zeug kaum rein, so fest ist das Gewebe», sagt sie. Per Akkubohrer wird nun ein Loch in die Flosse gebohrt, und Trujillo schraubt den GPS-Sender daran fest. Der Sender wird 280 Tage lang Koordinaten senden.

Für die Delfinkuh ist die Prozedur nun vorbei. Sie wird noch gewogen (180 Kilo!) und zurück in den Fluss gebracht. Da rufen die Fischer, die Trujillo engagiert hat. In ihrem Netz befindet sich ein zweiter, kleinerer Delfin. Trujillo entscheidet, ihn an Land zu holen, um die Daten aufzunehmen. «Wahrscheinlich ist es das Junge der Kuh», sagt er.

Die Arbeit muss schnell vonstattengehen, weil das Tier eine Minute lang nicht atmet und ängstlich quiekt. Trujillo entscheidet schliesslich, die Aktion abzubrechen. Ein Sender ist für Jungtiere ohnehin nicht vorgesehen, weil sie mit ihren Müttern unterwegs sind.

Als das Tier zurück zum Fluss getragen wird, winkt Trujillo einige Kinder herbei, die sich neugierig vom Ufer genähert haben. Sie gehören zu einer der armen Fischerfamilien, die entlang des Flusses leben. Trujillo animiert sie, das Delfinjunge zu berühren. «Die Fischer», sagt Trujillo, «nennen die Delfine böse Tiere – ‹animales malos› –, weil sie ihnen die Netze zerreissen.» Das lernten schon die Kinder, und sie kriegten Angst. Das will Trujillo durch den Kontakt ändern.

Ein Sieg für den Delfin

Später an Bord eines der typischen Langboote der Amazonasregion erläutert Trujillo die Bedeutung des GPS-Projekts: «Wir wollen sehen, wie sich die Tiere innerhalb des riesigen Stromsystems bewegen.» Insbesondere Männchen könnten in jahrelanger Wanderung bis zu tausend Kilometer zurücklegen. Die Weibchen seien hingegen sesshafter. Anhand ihrer Aufenthaltsorte möchten Trujillo und der WWF den Regierungen der sieben Amazonasanrainer vorschlagen, welche Regionen als besonders schützenswert einzustufen sind. «Wo die Delfine sich aufhalten, sind auch viele Fische», sagt der Forscher. «Und wo viele Fische sind, ist auch die Flussflora in Ordnung.»

Zwar würde er am liebsten ganze Flüsse unter Schutz stellen, aber das sei illusorisch, das mache keine Regierung. Trujillo sieht sich nicht als radikalen Umweltschützer, sondern als Realist. Man müsse den Menschen vernünftige Entwicklungsmöglichkeiten geben. Denn letztendlich zerstörten sie durch den Raubbau an der Natur sich selbst.

Trujillos Idee ist der Aufbau eines Delfintourismus. «Nicht gegen, sondern mit der Natur arbeiten», nennt er das. Für sein Engagement erhielt er 2007 den renommierten Whitley Award, den «grünen Nobelpreis»; zuletzt war er Protagonist im Dokumentarfilm «A River Below», in dem es um die Herausforderungen geht, mit denen NaturschützerInnen im Amazonas zu kämpfen haben.

Der WWF schätzt die Zahl der rosa Delfine im Amazonasbecken auf 37 000. Deswegen hält Trujillo die Kategorie «Vom Aussterben bedroht» für zu streng. Sie wurde von der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) festgelegt. «Ich würde die Delfine als ‹stark gefährdete Art› einordnen», sagt der Wissenschaftler. Aber das könne sich schnell ändern.

Als eine der grössten Gefahren sieht Trujillo die 124 Wasserkraftwerke in der Region an. Weitere 277 seien geplant. Sie zerstören grosse Waldflächen, unterbrechen die Verbindungen der Flüsse, führen zur Ansiedlung von Menschen in einem Radius von vierzig bis hundert Kilometern. Es werden Strassen gebaut, die neue Rodungen nach sich ziehen. «Ohne die Bäume sterben auch die Flüsse», sagt Trujillo. «Sie versanden, werden flacher, die Wasserkreisläufe kollabieren, es wird trockener, und die Reproduktionszyklen kommen zum Stillstand.» Trujillo nennt das Beispiel der Fische, die sich in der Regenzeit, wenn die Uferwälder überschwemmt werden, von den Früchten der Bäume ernähren und deren Samen verbreiten.

Eine weitere Gefahr für die Flussdelfine ist die Jagd. Tausende Exemplare wurden in den vergangenen Jahren getötet und ihr fettes Fleisch als Köder beim Fang des Silberantennenwelses verwendet, eines beliebten Speisefischs in Kolumbien. Dann verbot die kolumbianische Regierung Ende 2017 seine Kommerzialisierung wegen zu hoher Quecksilberwerte. «Es war ein indirekter Sieg für den Flussdelfin», sagt Trujillo. Er erhielt damals Morddrohungen, weil er als einer der Ersten gewarnt hatte. Das passte der Fischindustrie nicht. «Der Amazonas ist immer mehr in der Hand von Konzernen», klagt Trujillo. Die Regierungen seien schwach oder abwesend. «Die Zukunft der Region ist unsicher.»

Legenden der Indios

Am Abend kehrt Trujillos Team in die kleine Forschungsstation zurück, die in der Nähe des Städtchens Puerto Carreño liegt. Vier Delfine haben die WissenschaftlerInnen mit Sendern ausgestattet sowie drei Jungtiere registriert. «Es lief richtig gut», sagt Trujillo. Manchmal dauere es mehrere Tage, ein Tier zu finden.

Verbreitungsgebiet der Amazonas-Flussdelfine (grosse Ansicht der Karte) Karte: Woz, Quelle: PLOS ONE (CC BY 2.5)

Die Dunkelheit bricht über den Orinoco herein, und ein sternenklarer Himmel spannt sich auf. Feuer lodern auf der venezolanischen Seite des Flusses. Der Wald wird zur Jagd und zur Schaffung von Rinderweiden gerodet. Trujillo sitzt auf einem Uferfelsen und erzählt von den Legenden der UreinwohnerInnen. Viele Indios im Amazonas verehren die Delfine als Götter, die in Städten auf dem Grund der Flüsse lebten. Es seien Ertrunkene, die sich in Menschen zurückverwandeln könnten und manchmal an Land kämen. Fernando Trujillo selbst wurde von den Indios für so ein Wesen gehalten. Er sei zurückgekehrt, sagten sie, um den Menschen die Botschaft der Delfine zu überbringen.