Seuchenpolitik in China: Zero Covid über alles

Nr. 20 –

In der chinesischen Wirtschaftsmetropole Schanghai gilt seit gut fünfzig Tagen ein strikter Lockdown. Die Gründe für diese drastische Massnahme sind auch politischer Natur – und sorgen für Unmut.

Während sie zu Hause eingesperrt waren, erfanden die Menschen in Schanghai, über das Ende März ein strenger Lockdown verhängt worden war, eine neue Form des Bürger:innenjournalismus: Sie riefen Regierungshotlines an, zeichneten die Gespräche auf und veröffentlichten diese online, wo sie zumindest kurzzeitig abrufbar waren. Durch einen solchen Anruf lernten die Bewohner:innen der bevölkerungsreichsten Stadt Chinas die Stimme von Zhu Weiping kennen, einer Epidemiologin der Schanghaier Seuchenschutzbehörde.

«Als Fachfrau habe ich ganz zu Beginn vorgeschlagen, dass wir die Leute nicht abholen sollten», sagte Zhu. «Lassen wir sie einfach zu Hause in Quarantäne.» Aber die Regierung verfolgte längst eine ganz andere Strategie. Wer positiv getestet wurde, auch mit milden oder gänzlich ohne Symptome, musste sich in eine Quarantäneeinrichtung begeben. Ironischerweise war es der Aufenthalt in diesen überfüllten behelfsmässigen Spitälern mit spärlicher Ausstattung und schlechter Hygiene, der den Gesundheitszustand vieler Menschen verschlechterte, und nicht die Covid-Infektion. Selbst Menschen hohen Alters und mit Behinderungen mussten dorthin.

Viele Kollateralschäden

Weil der Grossteil der medizinischen Ressourcen in die Covid-Präventionsmassnahmen floss, ist es in Schanghai schwierig geworden, eine medizinische Behandlung für andere Leiden zu bekommen. «Der Kollateralschaden ist viel grösser als der Schaden, den das Virus selbst verursacht», sagte deshalb die Epidemiologin Zhu. Tatsächlich wurden in Schanghai vom 1. März bis Anfang dieser Woche 643 250 Covid-Fälle registriert: 91,1 Prozent davon verliefen asymptomatisch, die Mortalitätsrate lag bei 0,09 Prozent – und von den 576 Verstorbenen waren die meisten ungeimpft, höheren Alters und litten an Vorerkrankungen.

Zu den von Zhu Weiping erwähnten Kollateralschäden haben Einwohner:innen Schanghais Informationen zusammengetragen, in einem gemeinschaftlich geführten Onlinedokument. Dort ist von älteren Menschen zu lesen, die aufgrund unerträglicher Schmerzen und fehlender medizinischer Behandlung Selbstmord begingen, bis hin zu einem Kind, dem aufgrund eines fehlenden Covid-Tests der Zutritt zum Spital verweigert wurde und das wegen verzögerter medizinischer Erstversorgung verstarb. Fast 200 solche indirekten Todesfälle sind in dem Dokument mittlerweile aufgelistet.

Dass in Schanghai nach der Ausbreitung der Omikronvariante ein drastischer Lockdownkurs eingeschlagen wurde, hat auch politische Gründe: Die offiziell verfolgte Zero-Covid-Strategie wird als Beweis der Überlegenheit von Chinas politischem System gegenüber den angeblich dekadenten und ineffizienten westlichen Demokratien dargestellt. Und gegen Ende seiner zweiten fünfjährigen Amtszeit als Staatspräsident ist es auch eines der wichtigsten politischen Anliegen von Xi Jinping. Er ist entschlossen, damit seine Macht zu legitimieren, um sich am 20. Kongress der Kommunistischen Partei im kommenden Herbst seine dritte Amtszeit zu sichern.

Bei seiner ersten öffentlichen Äusserung zum Omikronausbruch in Schanghai wies Xi am 5. Mai die Parteiführung an, unbeirrt an der Zero-Covid-Strategie festzuhalten und «resolut gegen alle Worte und Taten» zu kämpfen, die Chinas Covid-Kontrollstrategie «verfälschen, anzweifeln oder bestreiten». Es klang wie ein Loyalitätstest für das ganze Land, insbesondere für das liberale, westlich gesinnte Schanghai.

Öffnungsschritte eingeleitet

Dass dadurch riesige wirtschaftliche Schäden entstehen, nimmt die Regierung in Kauf. Der Hafen von Schanghai ist der meistgenutzte der Welt: Letztes Jahr wickelte er 47 Millionen Container ab; das ist einer von fünf Containern, die ins Land kommen oder es verlassen. Als Resultat des Lockdowns fielen die chinesischen Exporte im April aber auf den tiefsten Stand seit zwei Jahren. In alledem steht Schanghai bei weitem nicht alleine da. Gemäss Medienberichten galt in den letzten Wochen in über vierzig chinesischen Städten und für annähernd 400 Millionen Einwohner:innen ein mehr oder weniger strenger Lockdown. Dabei kommt es durchaus vor, dass übereifrige Beamt:innen auf lokaler Ebene übertriebene Massnahmen umsetzen, um Kennzahlen zu erreichen, die von der Regierung vorgegeben werden.

Stellvertretend für viele trug ein Unternehmer aus Schanghai seinen Unmut über die strikte, von oben angeordnete Zero-Covid-Strategie vor, indem er seinen Anruf auf die Regierungshotline veröffentlichte: «Ich kann meine Arbeit nicht von zu Hause aus machen. Alle meine Projekte liegen auf Eis», sagte er gegenüber der Hotline. «Über vierzig Jahre hat Schanghai gebraucht, um zu werden, was es ist. Es ist nicht einfach, das Wissen einer Stadt, ihre Kultur, ihre Wirtschaft und ihre Ordnung aufzubauen. Das ist die Arbeit von Generationen. Sehen Sie sich an, was Sie in einem einzigen Monat daraus gemacht haben.»

Immerhin: Angesichts der tiefen Zahl von Neuansteckungen in Schanghai kündigte die stellvertretende Bürgermeisterin Zong Ming am vergangenen Sonntag öffentlich einen Plan zur schrittweisen Öffnung der Stadt bis zum 1. Juni an. Viele Bürger:innen reagierten jedoch auf diese Ankündigung mit gemischten Gefühlen. Aus gutem Grund: Als der Lockdown am 27. März begann, hiess es offiziell, er werde nur vier Tage dauern.

Aus dem Englischen von Raphael Albisser.