Kurdische Autonomiegebiete: Faustpfand politischer Grossmächte
Ein militärischer Angriff der Türkei auf Rojava steht unmittelbar bevor. Die Folgen werden brutal sein: zivile Opfer, Zerstörung, Vertreibungen. Doch der Westen schweigt, weil er die Türkei als Nato-Partner braucht.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan droht immer unverhohlener mit einer militärischen Invasion in Rojava, um dort seinen lang ersehnten Traum einer «Sicherheitszone» zu erfüllen. Der Begriff ist bewusst irreführend, denn was Erdogan im an die Türkei grenzenden, unter kurdischer Verwaltung stehenden Autonomiegebiet im Nordosten Syriens plant, ist letztlich die Auslöschung Rojavas und die brutale Vertreibung der dortigen Bevölkerung. Im nächsten Jahr stehen Parlamentswahlen an. Erdogan steht – auch angesichts grosser wirtschaftlicher Probleme – politisch unter Druck, eine sicherheitspolitische Eskalation kommt ihm gelegen.
Die sogenannte Sicherheitszone, die bis zu dreissig Kilometer tief nach Rojava hineinreichen soll, existiert in Teilen schon. 2017, 2018 und 2019 haben die türkische Luftwaffe sowie Spezialeinheiten und islamistische syrische Milizen, die in vielen Fällen zuvor als Kämpfer des Islamischen Staates (IS) aktiv waren, in drei blutigen Militäroperationen mehrere Gebiete angegriffen und erobert.
Ziel ist ein Besatzungsgürtel
Konkret sind also vor dem IS verteidigte und befreite Gebiete in die Hände der türkischen Invasoren gefallen. Teile der dort lebenden kurdischen, jesidischen und assyrischen Bevölkerung wurden gezielt vertrieben, um Familienangehörige syrischer Islamisten sowie syrische Kriegsflüchtlinge aus der Türkei anzusiedeln – was gegen das im Völkerrecht verankerte Non-Refoulement-Gebot verstösst, da ihnen im Herkunftsland Verfolgung droht. Innerhalb dieser besetzten Gebiete beteiligen sich der türkische Geheimdienst und islamistische Milizen an Entführungen und Folter, oft auch an sexualisierter Gewalt, wie etwa im August 2020 ein unabhängiger Uno-Bericht festhielt.
All das ist mit Billigung der Nato geschehen. Derzeit steht ein Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands zur Diskussion, und die Türkei hat als einziges Mitgliedsland angekündigt, ein Veto einzulegen, sollten die beiden Länder nicht härter gegen politisch aktive kurdische Geflüchtete vorgehen. Da stellt sich die Frage: Werden sich die Nato-Partner überhaupt gegen die unmittelbar bevorstehende Militäroperation in Rojava stellen, oder wollen sie die Gunst der Türkei als Verbündete gegen Russland nicht gefährden?
Die Furcht vor der angekündigten Militäroperation ist bei Kurd:innen auch deshalb gross, weil die Türkei derzeit im kurdischen Autonomiegebiet im Irak ihre sogenannten Klauenoperationen durchführt. In einer Serie von Militäroperationen, die seit Mitte April wieder eskalieren, wird im Namen des angeblichen Kampfes gegen den Terror seit 2020 systematisch kurdisches Gebiet grenzübergreifend besetzt. Wiederum werden Zivilist:innen getötet, wie die internationale Friedensorganisation CPT in einem letztjährigen Report festhielt, während die internationale Staatengemeinschaft schweigt. Mehrere Expert:innen wie der türkische Analyst und Journalist Murat Yetkin gehen davon aus, dass die Türkei versuchen wird, die militärisch eroberten Kurd:innengebiete in Rojava wie auch im Nordirak miteinander zu verbinden, um so entlang ihrer Grenze einen regelrechten Besatzungsgürtel aufzubauen.
«Ich weiss von nichts»-Haltung
Ein besonderes Auge für diese Entwicklungen hat Evin Siwed, die Botschafterin der autonomen Administration von Rojava, die zurzeit in Slemani im Nordirak lebt. Siwed warnt, dass die Lage jeden Moment kippen könne: «Wir als kurdische Bevölkerung wissen, dass diese zwei Jahre, 2022 und 2023, in allen Teilen Kurdistans enorm herausfordernd sein werden. Die Türkei will die hart erkämpften politischen Autonomien im Nordirak und in Rojava zerstören. Der Vertrag von Lausanne aus dem Jahr 1923, der Kurdistan [Anm. d. Red.: jene Gebiete, wo Kurd:innen die Bevölkerungsmehrheit stellen] in vier Teile zerstückelte, wird nächstes Jahr hundert Jahre alt und läuft aus. Die Türkei nimmt das als Chance und will jene Teile Kurdistans, die einst zum Osmanischen Reich gehörten, wieder einnehmen.» Darauf angesprochen, wie sie die Rolle Europas im Kontext der Nato-Beitrittsverhandlungen sieht, erwidert Siwed: «Wir Kurd:innen sind schon lange zur Überzeugung gelangt, dass es wirklich nie eine moralische Basis irgendeiner Politik uns gegenüber gab und gibt, jedes Mal sind wir das Faustpfand dieser grossen politischen Abkommen, egal ob damals in Lausanne oder bei den jetzigen Nato-Beitrittsverhandlungen.»
Auch der Vertreter der autonomen Rojava-Administration in Berlin, Khaled Davrisch, erklärt: «Das Stillschweigen der deutschen Regierung ähnelt einer ‹Ich sehe nichts, ich weiss von nichts›-Haltung. Sie sei gegen Autokratien, lässt Erdogan aber faktisch mit allem durchkommen – eine Doppelmoral.» Davrisch macht deutlich: «Eine solche türkische Invasion ist für den IS willkommen, denn dadurch kann er nur erstarken.»
Der Westen stützt mit seinem Schweigen ein Regime, das innenpolitisch eigentlich gar nicht so standhaft ist. Die rechtsnationalistische Regierungskoalition von Erdogans AKP mit der ultranationalistischen MHP wankt, doch statt demokratische Kräfte in der Region zu unterstützen, hilft der Westen dem Regime faktisch bei einem Wahlkampf, der aus Krieg und ethnischen Säuberungen besteht. Den Preis dafür zahlt die kurdische Bevölkerung – in allen Gebieten, wo sie lebt.
Die Politikwissenschaftlerin Dastan Jasim (28) forscht am Leibnitz-Institut für Globale und Regionale Studien in Hamburg zur Lage in den Kurd:innengebieten. Die letzten Monate verbrachte sie in Slemani im Nordirak.