Sanktionen gegen Putin: «Wir sollten der russischen Bevölkerung die Hand reichen»
Am Weltwirtschaftsforum in Davos dominierte der Ruf nach härteren Sanktionen gegen Russland. Kenneth Roth, Chef von Human Rights Watch, warnt davor, das ganze Land ins Visier zu nehmen.
WOZ: Herr Roth, Sie haben an einem Podium am Weltwirtschaftsforum in Davos davor gewarnt, mit den Sanktionen die gesamte russische Bevölkerung zum Feind zu erklären. Wo sehen Sie das Problem?
Kenneth Roth: Es ist zweifellos richtig, hochrangige Kremlbeamte oder Militäroffiziere ins Visier zu nehmen, um Sie von Ihrer Invasion der Ukraine abzubringen. Solche gezielten Sanktionen haben eine ganz klare Absicht. Ich beobachte derzeit jedoch eine Verschiebung in der Rhetorik und teilweise auch in der Praxis: Zunehmend wird die gesamte russische Bevölkerung als Feind behandelt. Und das ist ein riesiger Fehler.
Woran machen Sie diese Verschiebung fest?
Nach dem Podium kam die ukrainische Botschafterin für die Uno in Genf zu mir und wandte ein, dass alle Russen die Krim als Teil Russlands sehen und Putin sehr populär sei. Darum sei es richtig, die gesamte Bevölkerung ins Visier zu nehmen. Doch in 150 russischen Städten haben Menschen gegen den Krieg protestiert – trotz Zensur, Desinformation und der Drohung, dafür fünfzehn Jahre ins Gefängnis zu kommen. Die Menschen in Russland sollten als potenzielle Alliierte betrachtet werden.
Alliierte gegen den Kreml?
Ja. Was wird den Kreml stoppen? Gezielte Sanktionen und natürlich auch die militärische Verteidigung durch die Ukraine. Aber die russische Bevölkerung hat ebenfalls eine wichtige Rolle zu spielen, um die Kriegsverbrechen zu stoppen, die in ihrem Namen begangen werden: Putin ist sehr sensibel für die Möglichkeit einer sogenannten Farbenrevolution – dass sich die Leute zusammenschliessen und ihn verjagen. Er sorgt sich um die öffentliche Meinung. Wenn die Sanktionen die ganze Bevölkerung als Feind behandeln, werden sie sich hinter die russische Flagge stellen.
Wie beurteilen Sie diesbezüglich die aktuellen Sanktionen?
Im Fall von vielen Unternehmen, die sich jetzt aus Russland zurückziehen, sollte man nach den Auswirkungen fragen. Handelt es sich um eine Firma, die Waffenteile baut, ist der Fall klar. Wenn sich aber irgendein Einzelhandelsgeschäft zurückzieht, wird das dem Kreml kaum schaden.
Sie meinen etwa den Konzern Nestlé, der in der Kritik steht, weil er sich nicht ganz aus Russland verabschiedet hat?
Ich will mich nicht zu einzelnen Firmen äussern. Aber eine Firma, die nur Konsumgüter in Russland verkauft, bestraft durch ihren Abzug lediglich die russische Bevölkerung. Befürworter solcher Rückzüge glauben, dass damit die Bevölkerung dazu bewogen wird, sich gegen den Krieg zu stellen. Es bewirkt jedoch eher das Gegenteil: Die Bevölkerung wird sich angegriffen fühlen. Der Westen muss auf den Kreml zielen und gleichzeitig der russischen Bevölkerung die Hand reichen.
Die Sanktionen zielen nicht nur auf die Oligarchen, sondern etwa auch auf die Reserven der russischen Zentralbank. Was halten Sie davon?
Das ist Regierungsgeld. Durch die Beschlagnahmung dieses Geldes schränkt man Putin darin ein, weitere Kriegsverbrechen zu begehen. Das gilt auch für den Importstopp von russischem Gas und Öl, der unter anderem von der Ukraine gefordert wird – ein Grossteil der Erlöse geht an die russische Regierung.
Ist die Unterscheidung so einfach? Das Einfrieren von Zentralbankgeld kann Russland in eine Wirtschaftskrise drängen …
Nein, die Unterscheidung ist nicht simpel. In vielen Fällen brauchte es am Ende einen Ermessensentscheid – oft wird man zum Schluss kommen, dass eine bestimmte Sanktion ergriffen werden soll, obwohl auch die Bevölkerung sie zu spüren bekommt. Man kann die Sanktionen aber auch mit einer Botschaft an die russische Bevölkerung versehen: Es muss klargemacht werden, dass sie nicht gegen sie gerichtet ist.
Sehen Sie irgendwo historische Beispiele für sinnvolle Sanktionen?
Die Magnitsky-Sanktionen, die die USA 2012 entschieden haben, sind gut, weil sie sich ganz gezielt gegen russische Beamte richten – und nicht gegen die gesamte Bevölkerung. Ein gutes Mittel ist auch die Strafverfolgung durch den Internationalen Strafgerichtshof. Schlecht sind dagegen breite Sanktionen, die eine gesamte Wirtschaft treffen. Indem die US-Regierung den Taliban die Mittel entzog, hat sie die gesamte afghanische Wirtschaft lahmgelegt, was viele Menschen in eine riesige Not gebracht hat. Die USA wollen, dass Mädchen zur Schule können; wenn sie verhungern, bringt ihnen das aber nichts.
Gerade die USA erkennen den Internationalen Strafgerichtshof aber nicht an.
Der ehemalige US-Präsident Donald Trump hat der Chefanklägerin des Gerichtshofs, Fatou Bensouda, gar Sanktionen auferlegt, weil sie US-Folterungen in Afghanistan untersuchen wollte. Dabei steht im Römer Statut des Strafgerichtshofs, dass für die Zuständigkeit des Gerichtshofs das Territorium ausschlaggebend ist, auf dem das Verbrechen begangen wurde: Afghanistan hatte das Römer Statut unterzeichnet – es spielt keine Rolle, dass die USA es nicht anerkennen. Die USA widersetzen sich auch der Untersuchung von israelischen Menschenrechtsverletzungen in Palästina, das den Gerichtshof anerkennt.
Sie haben am Podium erwähnt, dass Joe Bidens Regierung die Position im Fall von Russland revidiert hat.
Ja, Biden findet es zumindest in Ordnung, wenn der Internationale Strafgerichtshof in der Ukraine Beweise für Menschenrechtsverletzungen sammelt, auch wenn Russland anders als die Ukraine den Gerichtshof nicht anerkennt. Eben war eine US-Delegation in Den Haag, um Kooperationsmöglichkeiten zu prüfen; allerdings steht das US-Gesetz einer solchen im Weg. Die USA wollten immer verhindern, dass irgendwann auch US-Amerikaner vom Strafgerichtshof verfolgt werden können.
Wirtschaftshistoriker Adam Tooze, der das erwähnte Panel moderierte, wollte von der anwesenden US-Republikanerin Ann Wagner wissen, ob sie zu einer engeren Kooperation bereit sei – was diese jedoch absichtlich überhörte …
Sie wich der Frage aus, ja. Einige Kongressmitglieder sind aber dazu bereit. Der Republikaner Lindsey Graham zeigt sich neuerdings für eine Kooperation mit dem Strafgerichtshof bereit. Eine Handvoll Republikaner sagen, es sei Zeit, die Beziehung zum Internationalen Strafgerichtshof neu zu beurteilen.
Der Menschenrechtler
Kenneth Roth (66) ist seit 1993 Direktor der internationalen NGO Human Rights Watch, die sich in über achtzig Ländern für Menschenrechte engagiert. In den achtziger Jahren war er Staatsanwalt in Manhattan, wo er an der Untersuchung der Iran-Contra-Affäre beteiligt war: Während der US-Präsidentschaft Ronald Reagans waren die Einnahmen aus geheimen Waffenverkäufen in den Iran an die rechte Contras-Guerilla in Nicaragua weitergeleitet worden.