Internationales Recht: Eklat um Netanjahu
Ungarn hätte Benjamin Netanjahu beim Besuch in Budapest verhaften müssen. Stattdessen kündigt Viktor Orbán an, den Internationalen Strafgerichtshof verlassen zu wollen.

Eigentlich hätte der ungarische Regierungschef Viktor Orbán in der vergangenen Woche seinen israelischen Amtskollegen festnehmen lassen müssen. Doch statt Benjamin Netanjahu an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) auszuliefern, rollte Orbán ihm den roten Teppich aus und kündigte an, Ungarn werde vom Römer Statut, der vertraglichen Grundlage des IStGH, zurücktreten. Dieser sei ein «politisches Gericht» geworden, so Orbán. Ungarn wird damit voraussichtlich zum einzigen EU-Land, das nicht Vertragsstaat des Römer Statuts ist.
Der Chefankläger des in Den Haag ansässigen Gerichts, Karim Khan, hatte im Mai 2024 Haftbefehle gegen Netanjahu und dessen Verteidigungsminister Joav Gallant beantragt; ausserdem gegen den palästinensischen Hamas-Führer Mohammed Deif, der den Angriff der radikalislamischen Miliz auf Israel vom 7. Oktober 2023 massgeblich geplant haben soll. Deif wurde im Juli 2024 in Gaza getötet. Im November erliess der IStGH schliesslich internationale Haftbefehle gegen Netanjahu und den inzwischen abgesetzten Gallant.
Der Vorwurf gegen Netanjahu: Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der israelische Premier jubilierte, als Orbán den Austritt aus dem IStGH verkündete. Zu Hause versinkt er in einem Sumpf aus Skandalen. Die Affäre, die derzeit unter dem Namen «Katar-Gate» die israelische Presse dominiert, bringt ihn in immer grössere Bedrängnis. Zwei seiner Mitarbeiter sollen demnach Bestechungsgelder von Katar angenommen haben.
Israels Armee steht ausserdem für die Kriegsführung in Gaza unter heftiger internationaler Kritik. Zuletzt sorgte ein Angriff auf einen Krankenwagen und ein Feuerwehrauto, bei dem fünfzehn Menschen getötet wurden, für Aufruhr. Ein Video, das jüngst von der «New York Times» veröffentlicht wurde, zeigt, dass die angegriffenen Rettungsfahrzeuge mit blinkenden Warnleuchten auf dem Dach und eingeschalteten Scheinwerfern unterwegs waren. Die israelische Armee hatte behauptet, dass sie ohne Scheinwerfer unterwegs gewesen seien. Das nun veröffentlichte Video legt nahe, dass die Sanitäter gezielt getötet wurden.
Derweil demonstrieren zahlreiche Israelis mit den Angehörigen von Geiseln weiter gegen das Vorgehen der Regierung, für ein Ende des Krieges und für Verhandlungen, um die Rückkehr der Menschen zu ermöglichen, die seit mehr als eineinhalb Jahren im Gazastreifen von der Hamas festgehalten werden.
All dies hielt Netanjahu nicht davon ab, vier Tage in Ungarn zu verbringen, mit Orbán die Donau entlangzuspazieren und sich mit dem Chef der illiberalen Fidesz-Regierung zu verbünden – einer Regierung, die auch Antisemit:innen hofiert und sich immer wieder antisemitischer Rhetorik bedient. Der Eintracht der beiden Premiers tut dies keinen Abbruch. Als Orbán den Austritt aus dem IStGH verkündete, sagte Netanjahu in der gemeinsamen Pressekonferenz, dies sei für ihn «ein bewegender Tag». Zu Orbán gewandt, meinte er: «Du bist der Erste und, ich wage zu sagen, nicht der Letzte [der diesen Schritt gehen wird].»
Gewichtiges Erbe
Der angekündigte Austritt Ungarns aus dem IStGH ist nicht der erste Schlag, den das internationale Recht in jüngster Zeit erfahren hat. Anfang Februar hat US-Präsident Donald Trump Sanktionen gegen das Gericht und seine Mitarbeiter:innen angeordnet. Der Strafgerichtshof habe «seine Macht missbraucht», indem er «unbegründete» Haftbefehle erlassen habe.
Alexander Schwarz ist Koleiter des Programmbereichs Völkerstraftaten und rechtliche Verantwortung beim European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Beim Austritt Ungarns gehe es nicht allein um den Haftbefehl gegen Netanjahu, ist er überzeugt, sondern um die Schwächung einer Ordnung, die die Machthaber illiberaler Staaten wie Ungarn und die USA als Bedrohung für ihre Macht begriffen. «Der IStGH steht für Rechenschaft, für universelle Normen, für die Idee, dass niemand über dem Recht steht», sagt Schwarz. «Genau das ist es, was sie delegitimieren wollen – in dem Moment, in dem es ihnen politisch unbequem wird.»
Schwarz kommt während des Gesprächs immer wieder auf die Geschichte des internationalen Rechts zurück. «Die internationale Strafjustiz ist auch ein Erbe der Nürnberger Prozesse»; der Internationale Strafgerichtshof sei gewissermassen aus der Erfahrung des Holocaust entstanden. Obwohl an den Nürnberger Prozessen der Begriff «Völkermord» Eingang in die Anklageschriften gegen führende Vertreter des nationalsozialistischen Regimes fand, stützten sich die Urteile noch nicht auf diesen Tatbestand – schlichtweg, weil der Begriff «Genozid» juristisch damals noch nicht existierte.
Die Nürnberger Prozesse hatten jedoch Einfluss auf die Entstehung der Völkermordkonvention, die 1948 von der Uno-Generalversammlung verabschiedet wurde. Im gleichen Atemzug forderte die Uno auch einen internationalen Gerichtshof, um Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit international ahnden zu können. Erst 2002 wurde die immer wieder vorgebrachte Forderung mit der Gründung des IStGH in die Tat umgesetzt – während des Kalten Kriegs war das Vorhaben immer wieder am Widerstand der USA und der Sowjetunion gescheitert. Die USA und Russland sind wie Israel keine Vertragsstaaten.
Die EU hat sich in ihren Verträgen ausdrücklich zur internationalen Strafgerichtsbarkeit bekannt. Die europäische Nachkriegsordnung fusst unter anderem auf dem Prinzip «Nie wieder!». Genau diese Ordnung steht nun in Schwarz’ Augen auf dem Spiel. Er fordert jetzt, so wie auch Menschenrechtsorganisationen, dass die EU klare Kante zeigt. Konkret hiesse das etwa, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn einzuleiten. Das wäre zunächst eine förmliche Rüge, könnte im zweiten Schritt aber auch vor dem Europäischen Gerichtshof landen; möglicherweise kämen Strafzahlungen auf Ungarn zu.
Keine Schlupflöcher
Der IStGH verfügt nicht über eigene ausführende Organe, um seine Rechtsprechung durchzusetzen, er ist dabei auf seine Mitgliedstaaten angewiesen. Und bei einigen steht die Durchsetzung des Haftbefehls gegen Netanjahu infrage. Zwar haben ein paar Länder nach der Ausstellung des Haftbefehls klargemacht, dass sie den israelischen Premier im Fall seiner Einreise verhaften würden, etwa Irland, Spanien und die Niederlande. Frankreich hat dagegen bereits angekündigt, dass es Netanjahu bei einem Besuch nicht festnehmen würde, weil Israel nicht Mitglied des IStGH sei. Gegen dieses Argument spricht, dass laut dem Römer Statut auch Länder, die nicht Mitglieder sind, belangt werden können, wenn sie Verbrechen auf dem Boden eines Mitgliedstaats begehen. Und Palästina ist durchaus Mitglied des Gerichtshofs, wobei die entscheidende Frage dann wiederum lautet, wer Palästina als Staat anerkennt.
Die Augen sind nun auch auf Deutschland gerichtet. Der Kanzler in spe, Friedrich Merz, hatte Netanjahu noch am Wahlabend im Februar in einem Telefongespräch versichert, dass er Mittel und Wege finden werde, damit dieser Deutschland besuchen könne, ohne festgenommen zu werden. Es sei eine «abwegige Vorstellung, dass ein israelischer Ministerpräsident die Bundesrepublik Deutschland nicht besuchen kann», so Merz. Ein juristisches Schlupfloch gebe es aber nicht, sagt Alexander Schwarz vom ECCHR: Netanjahu nicht zu verhaften, «wäre schlichtweg ein eklatanter Völkerrechtsverstoss, würde Deutschland in eine Reihe mit illiberalen Staaten stellen und dem internationalen Recht weiter Schaden zufügen».
Und Netanjahu? In Israel läuft ein Korruptionsprozess gegen ihn, eine Gefängnisstrafe ist nicht ausgeschlossen; dies allerdings völlig unabhängig von der Untersuchung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dass eine solche Anklage in Israel gegen ihn angestrengt werden könnte, ist schwer vorstellbar. Eine andere Möglichkeit, ihn zu belangen, gäbe es allerdings, erklärt Schwarz: nationale Strafverfolgung nach dem Weltrechtsprinzip. «Mehrere Länder – etwa Deutschland, Frankreich, Belgien, Schweden oder auch Argentinien – haben Gesetze, die es grundsätzlich erlauben, Völkerstraftaten nach dem Weltrechtsprinzip auch dann zu verfolgen, wenn sie nicht im eigenen Land begangen wurden und wenn weder Opfer noch Täter aus dem jeweiligen Land stammen», sagt er. Allerdings gilt dabei in vielen Ländern, auch in Deutschland, die Immunität amtierender Staatsoberhäupter. Und ohnehin würden Länder, die sich einem IStGH-Urteil widersetzten, kaum stattdessen das Weltrechtsprinzip anwenden.