Tourismus: Ausbeutung mit Aussicht

Nr. 23 –

Ein Hotelier im Berner Oberland nutzt Arbeiter:innen systematisch aus. Der Fall zeigt, wie wenig geschützt ausländische Mitarbeitende sind, die nur kurz in der Schweiz weilen und nicht über ihre Rechte Bescheid wissen.

«Schwarze Schafe sind ein Problem für den Standort.» Die Arbeitsbedingungen in der Branche hätten sich aber stark verbessert, sagt ein Oberländer Hotelier: Dorfzentrum von Adelboden.

«Endlose Pistenkilometer vor atemberaubenden Bergkulissen» und «heimelige Holzchalets»: Mit diesen Vorzügen wirbt das Berner Bergdorf Adelboden um Gäste aus aller Welt. Doch die Oberländer Tourismusidylle hat auch Schattenseiten: «Nach einem Monat war ich so kaputt, dass ich nicht wusste, wie ich weitermachen soll», sagt eine Frau, die in einem Viersternehotel mitten im Dorf gearbeitet hat. Sie erzählt von ständiger Verfügbarkeit, unbezahlter Arbeit und Ausnutzung ausländischer Angestellter. «Es war meine bisher schlimmste Erfahrung in einem Hotel.» Aus Angst vor Repressionen ihres ehemaligen Arbeitgebers möchte sie weder ihren Namen noch ihr Gesicht in der Zeitung sehen.

Recherchen der WOZ und des investigativen Rechercheteams Reflekt zeigen: Ihre Erfahrungen sind kein Einzelfall. Sieben Angestellte waren bereit, Auskunft zu geben. Sie alle arbeiteten im Zeitraum von Mitte 2019 bis Mitte 2021 unterschiedlich lange im gleichen Betrieb. Ihre Aussagen sowie schriftliche Belege weisen auf ein System hin, in dem die Ausnutzung ausländischer Angestellter keine Ausnahme ist. Und: Beim Hotelbesitzer handelt es sich nicht um irgendwen. Der Mann führt mehrere Betriebe in der Region, die Mitglied im Branchenverband Hotelleriesuisse sind. Aus juristischen Gründen wird sein Name hier nicht genannt.

Auf Pikett rund um die Uhr

«Wir sind doch keine Sklaven», sagt einer der Gesprächspartner. «Ich will das, was mit uns gemacht wurde, jemandem erzählen.» Vier ehemalige Angestellte schildern, dass die gesetzlich vorgeschriebenen Höchstarbeitszeiten systematisch überschritten wurden. Ein Mann legt vom Hotelbesitzer unterschriebene Stundenblätter vor. Sie zeigen: In einem Monat musste er an jedem einzelnen Tag arbeiten – ohne auch nur einen der gesetzlich vorgeschriebenen Ruhetage bezogen zu haben.

Zudem hätten die Angestellten ihrem Chef 24 Stunden an 7 Tagen pro Woche zur Verfügung stehen müssen. Einen Mann klopfte der Hotelbesitzer immer wieder in den freien Stunden aus seinem Zimmer und forderte ihn zur Arbeit auf. «Ich konnte nicht mehr schlafen, weil ich nie wusste, wann er mich wieder rufen würde», sagt der Mann. Wenn er darauf hinwies, dass er sich nach einer beendeten Schicht ausruhen müsse, habe ihm der Hotelbesitzer mit schlechten Referenzen gedroht. Per Gesetz darf eine Person im Zeitraum von vier Wochen an höchstens sieben Tagen auf Pikett sein. Zudem müsste die Zeit entlohnt werden – unabhängig von der effektiv geleisteten Arbeit. Das sei nicht passiert, sagen die ehemaligen Angestellten.

Die Überstunden, die sich mit der Zeit ansammelten, wurden nie ausbezahlt. Mehrere Dokumente belegen entsprechende Konflikte zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer:innen. Mit den Vorwürfen konfrontiert, sagt der Hotelier, dass ihm keine solchen Beschwerden bekannt seien. Auch sonst bestreitet er alles. In seinem Betrieb würden die gesetzlichen Bestimmungen eingehalten.

Die meisten der interviewten Personen verdienten zwischen 3477 Franken – also den Mindestlohn gemäss Gesamtarbeitsvertrag – und 3800 Franken brutto. Doch vom Lohn wurden mehreren Mitarbeitenden ohne ausreichende Begründung höhere Beträge abgezogen. Ein Angestellter musste auf einen ganzen Monatslohn verzichten, weil er angeblich Mobiliar beschädigt hatte. Der Hotelier bestreitet auch diese Vorwürfe: «Für so etwas würden wir unseren Angestellten niemals Geld vom Lohn abziehen.» Schriftliche Belege beweisen das Gegenteil: Der in diesem Fall abgezogene Betrag übersteigt das gesetzlich zugelassene Limit für Schadenersatzleistungen bei weitem.

Als die Coronapandemie ab Frühjahr 2020 den Tourismus stark einschränkte, beantragte der Hotelbesitzer Kurzarbeitsentschädigung vom Bund und gab den voraussichtlichen Arbeitsausfall mit 75 Prozent an. Heisst: Die Angestellten hätten fortan nur 25 Prozent arbeiten dürfen. Doch die bereits erwähnte 24/7-Verfügbarkeit ging laut Aussagen der ehemaligen Angestellten weiter. «Der Chef sagte, das seien wir ihm schuldig, weil er uns weiterhin Kurzarbeitsgeld auszahlte», sagt eine ehemalige Angestellte. Die Mitarbeitenden wurden während der Kurzarbeit dazu ermuntert, die Arbeitsstunden nicht aufzuschreiben. Nach Gesetz hätte der Betrieb weiterhin Stundenblätter führen müssen.

Weiter wird dem Hotelbesitzer vorgeworfen, dass er Angestellte privat für sich arbeiten liess. Diese hätten ihn auch in ihrer Freizeit bedienen müssen, ohne Stunden aufzuschreiben. Zudem habe er Stundenblätter manipuliert, um externe Kontrollen zu täuschen, und Personen ohne Bewilligung angestellt.

Auch diese Vorwürfe streitet der Hotelbesitzer alle ab. Auf den Vorschlag, dass er sich entlasten könnte, indem er Einsicht in Stundenblätter, Kurzarbeitsanträge und Lohnabrechnungen gewährt, geht er nicht ein. Die Dokumente seien vertraulich. Im persönlichen Gespräch stellt er eine Liste ehemaliger Mitarbeitender in Aussicht, die zusätzlich kontaktiert werden könnten. Bis Redaktionsschluss bleibt er diese schuldig.

Zahnlose Sanktionen

Die gesammelten Verstösse seien gravierend, sagt Mauro Moretto, Verantwortlicher für den Gastrobereich bei der Gewerkschaft Unia. Generell gebe es noch immer zu viele ähnlich gelagerte Fälle in der Gastrobranche. «Das Ausmass hier ist aber unerhört und skandalös.»

Verhindern sollten solche Fälle die Kontrollstelle des Gesamtarbeitsvertrags im Schweizer Gastgewerbe (L-GAV) und die kantonale Arbeitsmarktkontrolle. Zudem können sich Arbeitnehmer:innen mit arbeitsrechtlichen Ansprüchen an eigens dafür eingerichtete Schlichtungsbehörden wenden. Wie also ist es möglich, dass die Adelbodner Arbeitsverhältnisse so lange unentdeckt blieben?

Auf Anfrage schreibt die L-GAV-Kontrollstelle, dass Betriebe vor allem auf Klage hin kontrolliert würden. 2020 sind laut Jahresbericht schweizweit 337 solche Klagen eingegangen, die sowohl von den vertragsschliessenden Verbänden als auch von Privatpersonen eingereicht werden können. Zusätzlich führt die Kontrollstelle schweizweit jährlich rund 2000 Stichprobenkontrollen durch. 2020 waren es aufgrund der Coronakrise nur 956 – bei einem Drittel wurden Verstösse gegen die allgemein verbindlich erklärten Artikel des L-GAV festgestellt. Bei wiederholten Verletzungen führt das zu Bussen in der Höhe von 600 bis 20 000 Franken. Laut dem kritisierten Adelbodner Hotelbesitzer habe die Kontrollstelle seinen Betrieb in den vergangenen Jahren mehrmals kontrolliert, ohne Verstösse festzustellen. Die Behörde selbst nimmt dazu nicht Stellung.

Die kantonale Arbeitsmarktkontrolle in Bern wiederum kontrolliert über alle Branchen hinweg rund 4000 Betriebe im Jahr. Sie bekämpft in erster Linie Schwarzarbeit und meldet Auffälligkeiten bezüglich des Gesamtarbeitsvertrags an die L-GAV-Kontrollstelle weiter. Mauro Moretto von der Gewerkschaft Unia empfindet die Sanktionsmöglichkeiten der kantonalen Arbeitsmarktkontrolle als zahnlos. Sie hätten kein Abschreckungspotenzial. Zudem seien die Arbeitsinspektorate mehrheitlich personell unterdotiert. Die Kontroll- und Sanktionsmechanismen der L-GAV-Kontrollstelle hingegen seien wirksamer und unmittelbarer, so Moretto.

Ein ehemaliger Angestellter erklärt, dass er mit der Schlichtungsbehörde in Kontakt stehe, der Prozess aber überfordernd sei. «Das Gesuch alleine und mit meinen Deutschkenntnissen zu stellen, ist zu kompliziert», sagt der Mann. Den anderen Mitarbeitenden war die Behörde nicht bekannt. Mauro Moretto von der Unia geht davon aus, dass der Hotelbesitzer diese Uninformiertheit ausnutzte.

Und genau hier liegt das Problem: Ausländischen Arbeiter:innen, die nur kurz für Gastro- oder Hoteljobs in der Schweiz weilen, mangelt es häufig an Sprachkenntnissen und an Wissen über ihre Rechte. Setzt ein Hotel zudem vorwiegend auf Gruppenreisende aus dem Ausland, die nur kurze Zeit zu Gast sind, wie im Fall Adelboden, bleiben allfällige Missstände länger unentdeckt, und die Gefahr der Ausnutzung steigt. Mehrere der Gesprächspartner:innen wussten nicht, wie sie sich wehren oder an wen sie sich hätten wenden können. Einer sagt: «Von einer Gewerkschaft habe ich noch nie etwas gehört.» Die Möglichkeit einer Klage bei der L-GAV-Kontrollstelle hat niemand in Betracht gezogen. Was also müsste geschehen, um solche Fälle in Zukunft zu verhindern oder wenigstens aufzudecken?

Aufklärung und Selbstregulierung

«Wenn Betriebe ihre Angestellten über ihre Rechte und über Gewerkschaften aufklären würden, wäre schon viel getan», sagt Mauro Moretto von der Unia. Zu wissen, wo man sich als angestellte Person informieren kann, sei ausschlaggebend für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Das Angebot wäre theoretisch da: Die Kontrollstelle des L-GAV setzt auf eine stetig aktualisierte Information in drei Sprachen. Angestellte können sich zudem unentgeltlich beim Rechtsdienst beraten lassen.

Die Arbeitsbedingungen in der Branche hätten sich in den letzten Jahrzehnten stark verbessert, sagt Hotelier Chris Rosser, der sich im Berner Oberland als findiger Unternehmer und fairer Arbeitgeber einen Namen gemacht hat. Trotzdem gebe es noch immer vereinzelt Betriebe, die Profit über faire Führung stellten. «Solche schwarzen Schafe sind auch ein Problem für den Tourismusstandort.» Für Rosser spielt die Selbstregulierung innerhalb des Hotellerieverbands eine wichtige Rolle. Die lokalen Hoteliers würden sich regelmässig offen und transparent austauschen. Stünden Vorwürfe im Raum, würden Handlungsmöglichkeiten diskutiert. Dabei setze man oft erst auf Kooperation und eine zweite Chance. Sei jedoch kein Wille zur Verbesserung erkennbar, stehe der entsprechende Betrieb schnell alleine da. Für Rosser ist zudem klar: Besonders in Zeiten des Fachkräftemangels könne sich kein Hotelier schlechte Presse leisten.

Der Hotellerieverband schreibt auf Anfrage, dass er seine Mitglieder fortlaufend über die geltenden Bestimmungen des L-GAV und andere rechtliche Themen informiere. Man biete etwa Schulungen an oder verfasse Merkblätter. Zum betreffenden Fall gibt der Verband keine Beurteilung ab, da sich der Sachverhalt nicht unabhängig verifizieren lasse. Grundsätzlich bestehe die Möglichkeit, Mitglieder auszuschliessen, sollten diese gegen die Interessen von Hotelleriesuisse verstossen. Mauro Moretto von der Unia sagt, die Gewerkschaft werde eine Kontrolle durch die L-GAV-Kontrollstelle veranlassen, falls sie entsprechende Informationen erhalte.

Für die ehemaligen Angestellten des Adelbodner Hotels kommen solche Massnahmen allerdings zu spät. Sie denken ungern an ihre Zeit in der Schweiz zurück, die Hoffnung auf Gerechtigkeit haben sie aufgegeben. «Ich habe abgeschlossen und erwarte keine Kompensation mehr», sagt einer von ihnen. Er wünsche sich nur noch, mit seinen Aussagen etwas zu verändern. Damit künftige Angestellte besser behandelt werden und auch selber die Oberländer Idylle geniessen können.

Diese Recherche wurde durch «investigativ.ch: Recherchefonds der Gottlieb und Hans Vogt Stiftung» unterstützt.