«Gilgamesh Origin»: Tausend Fragen zur Unsterblichkeit

Nr. 24 –

Ein unglaublich alter Stoff und viele aktuelle Bezüge: Eine palästinensisch-schweizerische Theatergruppe spielt in Bern das Gilgamesch-Epos. Wie geht das?

3 Schauspieler:innen auf der Bühne im Theaterstück «Gilgamesh Origin»
Die Kämpfe, das Aufeinanderprallen, das Einander-Halten: «Gilgamesh Origin» vermittelt über die Bewegung, wenn die Sprache fehlt. Foto: Rob Lewis

Es ist eigentlich eine simple Pointe: Wer über Jahrtausende erinnert wird, muss irgendwie unsterblich sein. Und so hat Gilgamesch sein Ziel doch noch erreicht – nicht ewig jung zwar, aber nie vergessen. An diesem Abend in der Grossen Halle in Bern wurde er von unterschiedlichsten Leuten gespielt, von Männern und Frauen, Palästinensern und Schweizerinnen, er hat genervt, aufgewühlt, wurde begehrt und hinterfragt. Seine Geschichte wurde zum Ausgangspunkt für ein interkulturelles Theaterprojekt gemacht, eine Begegnung im Jahr 2022, so ewig lange, nachdem seine Geschichte aufgeschrieben wurde. Das hätte er sich vielleicht nicht genau so vorgestellt, aber man kann doch sagen: immerhin.

Ungefähr 3500 Jahre alt sind die Steintafeln, auf denen das Gilgamesch-Epos niedergeschrieben ist, das nun als «Gilgamesh Origin» in palästinensisch-schweizerischer Zusammenarbeit aufgeführt wird. Es ist die älteste verschriftlichte Geschichte, die bekannt ist. Im Zentrum steht Gilgamesch, König von Uruk, zwei Drittel Gott, ein Drittel Mensch, despotisch im Regierungsstil und recht ungehobelt im Umgang. Um ihn ein wenig zu bändigen, erschafft die Göttin Aruru ihm einen Begleiter, Enkidu. Die beiden prügeln sich bei ihrer ersten Begegnung in der Wüste, als aber der Kampf unentschieden ausgeht, werden sie Freunde und ziehen gemeinsam aus, um Abenteuer zu erleben. Später stirbt Enkidu – und Gilgamesch wird bewusst, dass auch er sterben wird, worauf er nach dem ewigen Leben zu suchen beginnt. In letzter Minute schnappt ihm eine Schlange die Pflanze, die es richten könnte, vor der Nase weg. Es geht also um Freundschaft, Leben und Tod, auch um Macht, Liebe und Sex, um die Götter und um Demut – die ganz grossen Themen also, die, natürlich, nicht an Aktualität eingebüsst haben. Wie wird heute über sie nachgedacht?

Erst einmal Kaffee

Dieser alte Stoff ist die Grundlage für ein spezielles Stück, in dem viele Fragen aufgefächert werden. Die allererste: Kann diese Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und Palästina so überhaupt funktionieren, und wenn ja, wie? Auch das ist Thema an dem Abend, an dem oft die Ebene gewechselt wird – da wird die gemeinsame Arbeit reflektiert, der Stoff befragt, werden Erinnerungen erzählt; es wird von Reiseerfahrungen berichtet und auch immer wieder gestritten.

Aber erst einmal Kaffee trinken. Das tun schliesslich alle, die vier Schauspieler:innen aus Palästina, die zwei aus der Schweiz und der Musiker aus Ägypten, der seit dreizehn Jahren in der Schweiz lebt, wenn auch mit unterschiedlichen Präferenzen. Und so sitzen sie in einer ersten Szene gemeinsam am Tisch und machen sich dem Publikum bekannt. Gesprochen wird Arabisch, Deutsch, Englisch, Berndeutsch, man versteht und übersetzt sich irgendwie und kommentiert auch immer wieder die Schwierigkeiten, die sich während der gemeinsamen Arbeit ergeben haben. Wie geht man als Schweizer Schauspieler damit um, dass man beim ersten Besuch in Ramallah einfach verdammt Angst hat? Wie nimmt man als palästinensische Schauspielerin die eigene Geschichte in ein Stück mit, wenn man als Kind den Vater eine Zeit lang nur im Gefängnis getroffen hat? Es sind eindrückliche Szenen, die zwischen die Gilgamesch-Handlung geschoben werden und in denen die Mitwirkenden erzählen, welche Ängste, Hoffnungen und Erinnerungen der behandelte Stoff und das gemeinsame Spielen ausgelöst haben. Immer wieder die Frage: Wie redet man miteinander? Kann ein solches Vorhaben gelingen? Obwohl wir ja dasitzen, zuschauen und wissen: Doch, es geht, irgendwie.

Ein Macho, ein Arschloch?

Auch das mag ein Grund dafür sein, dass «Gilgamesh Origin» ein sehr körperliches Stück ist, die Kämpfe, das Aufeinanderprallen, das Einander-Halten. Manches ist über die Bewegung einfacher zu vermitteln, wenn die Sprache fehlt, einiges wird so auch verhandelt oder erst aufgetan: Vielleicht war es ein Kampf, vielleicht auch Sex oder beides, was Gilgamesch und Enkidu da in der Wüste miteinander angestellt haben. Und wie die Musik alles zusammenhält – der ägyptische Musiker Wael Sami Elkholy verleiht dem Stück mit E-Laute, Computer und Gesang Wärme und Takt.

Wie die Rollen werden auch die Kostüme geschwisterlich geteilt, und so sind die Perücken, die langen Gewänder und die Stöckelschuhe auch ein bisschen Mittel, die Geschlechter zu hinterfragen. Sowieso sind die Geschlechterverhältnisse eine wichtige Perspektive, aus der das Epos hier betrachtet wird: War dieser Gilgamesch einfach ein fürchterlicher Macho, ein Arschloch? Was ist mit den Frauenrollen, wieso gibt es hier nur Mutter, Göttin und Prostituierte? Wer spricht? Und nicht zuletzt: Wer darf Gilgamesch spielen?

Trotz all der Fragen, der Reflexionsebenen, die die Gruppe dem Ursprungsstoff hinzufügt, nimmt sie das Epos doch ernst und spielt es auch tatsächlich, mit nur einem ganz leisen ironischen Augenzwinkern. Das gelingt – und als sich das Stück nach der Hälfte ein bisschen zieht, wird auch gleich Abhilfe geschaffen: Arrak für alle! Ein Schluck starken Anisschnaps, danach ist man wieder drin.

«Gilgamesh Origin», eine Produktion der Theatercompany Dennis Schwabenland und des Al-Kasaba Theatre Ramallah, in Bern, Grosse Halle; weitere Aufführungen 16. bis 18. Juni 2022, 20 Uhr.