Unterwegs im Progr: Für jedes Programm ein Worst-Case-Szenario

Nr. 35 –

Formulare ausfüllen, Videokonferenzen führen, Termine umbuchen: Wie bleiben Kulturschaffende in Zeiten wie diesen kreativ? Und warum brauchen wir gerade jetzt kulturelle Veranstaltungen? Eine Geigerin, eine Filmemacherin und ein Schauspieler erzählen.

Früher Pausenplatz, heute Treffpunkt von Kulturschaffenden: Anne-Marie Haller, Arnaud Di Clemente, Meret Lüthi und Dennis Schwabenland im Innenhof des Berner Progr. Foto: Florian Bachmann

«Im September soll unsere Saison starten – so Coronaschicksal will», sagt Meret Lüthi und schüttet Zucker in ihren Cappuccino. Durch die Scheiben des Cafés im Kunstmuseum Bern sieht man zu ihrem Atelier im Kulturhaus Progr hinüber, einem ehemaligen Gymnasium, in dem seit sechzehn Jahren über 200 Kunstschaffende in siebzig Räumen tätig sind. Lüthis Atelier liegt unter dem Dach im vierten Stock, das kleinste Kämmerchen im ganzen Haus. Um es zu betreten, muss sie gebückt durch ein Türchen schlüpfen. Hier kann die Geigerin ohne Ablenkung üben.

Doch das Üben ist nur ein Teil ihrer Arbeit. Lüthi unterrichtet zu zwanzig Prozent an der Hochschule der Künste Bern und ist zudem Künstlerische Leiterin des Barockorchesters Les Passions de l’Ame, das sie 2008 gegründet hat. Sechs bis zwölf Programme kreiert Lüthi pro Jahr für die orchestereigene Konzertreihe in Bern und für die Einladungen zu Gastspielen im In- und Ausland. Pro Konzertsaison bestreitet das Orchester zwanzig bis vierzig Auftritte.

Im Moment schlägt sich Lüthi jedoch vor allem mit vielen Fragen herum: Werden die Leute wieder an Konzerte kommen, oder wird das durchschnittlich eher ältere Publikum sich vor einer Ansteckung mit Covid-19 nicht genügend sicher fühlen? Ist die Bühne genügend gross, wenn die MusikerInnen mit Abständen von 1,5 Metern spielen? Und wenn Konzerte abgesagt werden müssen, geben die Stiftungen ihr gesprochenes Geld trotzdem?

Die MusikerInnen in Lüthis Orchester, das nur zu rund zwanzig Prozent von Stadt und Kanton subventioniert wird, kommen aus über dreizehn Ländern – dies stellt Lüthi organisatorisch vor weitere Herausforderungen, da in jedem Land andere Coronaregeln gelten, die sich ständig ändern können. Kann ein Musiker plötzlich nicht einreisen, braucht sie Ersatz. Das alles erfordert grosse Flexibilität, aber auch präzise Planung. «Ich brauche für jedes einzelne Programm ein Worst-Case-Szenario», so Lüthi, die nun für jedes Konzert der kommenden Saison eine Ersatzdramaturgie mit reduzierter Formation organisiert hat, auf die sie kurzfristig zurückgreifen kann – ein riesiger Mehraufwand für alle Beteiligten.

Doch Lüthi versucht, die neue Situation spielerisch anzugehen und sich von den aktuellen Umständen zu neuen Ideen inspirieren zu lassen. Dass das Publikum weiter auseinander sitzen muss, gefällt ihr zum Beispiel: «Dadurch nehmen wir Musiker das Publikum nicht als Schwarm, sondern auch als Individuen wahr. Das ist wunderbar.» Diese Optik möchte sie auch nach Corona beibehalten. Allerdings bedeutet die Reduktion der ZuschauerInnen auch weniger Einnahmen. «Wir haben alle Musikerinnen und Musiker gebeten, die Konzerttage ganz frei zu halten, um ein Konzert allenfalls zweimal am selben Tag zu spielen», so Lüthi, «was natürlich ein riesiger Kraftakt ist.» Sie selber habe zwar keine Probleme damit, denn: «Konzerte sind für mich Glücksnahrung – je mehr Austausch ich habe, umso besser. Aber man kann das nicht von allen verlangen.» Den Austausch mit dem Publikum hat sie wahnsinnig vermisst in den letzten Monaten – und natürlich den direkten Kontakt und das Spielen mit ihren MusikerInnen. «Ich lechze danach, dass die Leute zurückkommen.»

4500 Kilometer lange Zugfahrt

Auch Anne-Marie Haller ist froh, dass die Menschen und das Leben wieder zurück in den Progr gekommen sind. Die Dokumentarfilmerin sitzt in ihrem Atelier, das sie mit einer Berufskollegin teilt. Von ihrem Fenster aus sieht man auf den Innenhof. Hier, wo sich früher SchülerInnen in der Pause die Füsse vertraten, stehen Tische und Stühle, man trifft sich zum Kaffee, zum Bier oder zum Pitaessen. Stimmfetzen und Vogelgezwitscher dringen durchs offene Fenster. «Ich habe mein Atelier hier, weil mich dieses Umfeld von anderen Kulturschaffenden und diese kreative Atmosphäre anregen bei dem, was ich mache. Ich arbeite zwar allein und mache alles selber, aber gerade deshalb brauche ich den Austausch mit anderen.» Doch während des Lockdowns habe sie hier nicht mehr arbeiten können, sie habe die Ruhe und die Leere nicht ausgehalten: «Es herrschte Endzeitstimmung.»

Nun ist zwar die Betriebsamkeit zurückgekehrt, doch das kulturelle Leben ist noch weit von einer Normalität entfernt. Diese Planungsunsicherheit, die schon vor Corona Teil des Alltags von Kulturschaffenden war, hat überhandgenommen. Hinzu kommt seit dem Lockdown all die administrative Arbeit: Formulare ausfüllen, Sicherheitskonzepte umsetzen, Räume für verschobene Veranstaltungen organisieren, neue Termine für Proben finden. All das beeinträchtigt und blockiert das kreative Schaffen und führt zu Existenzängsten. Haller kann im Oktober einen Auftragsfilm für eine Schweizer Band drehen, sie auf ihrer Tournee durch Russland begleiten. «Was mache ich jetzt?», fragt sie. «Die Musiker sind zwar guten Mutes – das muss man ja fast sein –, aber es gibt so viele Fragen: Können wir im Oktober überhaupt noch ausreisen? Was wird in Russland gelten – in Clubs, fürs Reisen …?» Geplant ist eine 4500 Kilometer lange Zugfahrt: «Im blödesten Fall kann ich zwölf Tage lang fünf Musiker und eine Musikerin mit Masken filmen.»

Theater lebt vom Kontakt

Einen Stock schräg über Hallers Atelier liegt das Büro des Regisseurs und Schauspielers Dennis Schwabenland. Er teilt das grosse ehemalige Physikzimmer mit anderen Theaterschaffenden. Soeben musste er die Aufführung seines Stücks «Gilgamesch» vom Oktober ins Jahr 2022 verlegen. Die Realisierung der internationalen Zusammenarbeit seiner Company «thecodes – theater company dennis schwabenland» mit dem Theater Al Kasaba aus Ramallah ist derzeit unmöglich, da die drei SchauspielerInnen aus Palästina nicht einreisen können. Anfang März hätte Schwabenland mit drei weiteren SchauspielerInnen nach Palästina fliegen wollen, um gemeinsam mit den SchauspielerInnen vor Ort das Projekt, an dem er seit 2018 arbeitet, zu entwickeln. «Die Koffer waren bereits gepackt, als wir die Reise absagen mussten.» Sie versuchten es mit Skype-Proben, was ganz interessant gewesen sei, doch auch seine Tücken gehabt habe: «Wenn das physische Aufeinandertreffen nicht möglich ist, fällt sehr viel weg.» Das Theater lebt vom Kontakt, nicht nur unter SchauspielerInnen, auch mit dem Publikum: «Das Theater macht aus, dass man gemeinsam in einem Raum sitzt, sich über den Bühnenrand austauscht, anschliessend an der Bar zusammen diskutiert.» Theater ist ein Gegenpol zum fortschreitenden Individualismus und der Vereinsamung, die Schwabenland Sorge bereiten. «Dass man sich für einen Theaterbesuch zurechtmacht, ist auch Teil davon, und nicht im Schlüpfer zu Hause vor dem Bildschirm sitzt und sich was anschaut.»

Das habe ihn während des Lockdowns fertiggemacht: all die Kulturschaffenden, die von zu Hause aus über ihre Bildschirme irgendetwas in den virtuellen Raum schickten. «Das ist der neoliberale Traum on Speed für alle Kulturkritiker, der Beweis für sie, dass man ja auch von zu Hause aus Kultur produzieren kann – und das erst noch gratis.» Doch Kultur kostet, und der Wettbewerb um die Gelder in der freien Szene wird anstrengender werden. «Es ist ein grosses Problem, dass viele Projekte ins nächste Jahr verschoben werden, denn es kommen ja auch neue, die finanziert und gezeigt werden wollen», so Schwabenland. «Aber Absagen ist auch problematisch. Denn alles, was abgesagt wird, ist nicht mehr sichtbar, wird nicht verhandelt, und es folgen auch keine weitere Einladungen oder Engagements.» Den finanziellen Schaden, der daraus resultiere, könne man gar nicht berechnen. Dass die Stadt Bern nun ausgerechnet in dieser Situation Mitte August Sparmassnahmen im Kulturbereich für das kommende Jahr angekündigt hat, findet Schwabenland «gelinde gesagt, sehr unsensibel». 370 000 Franken sollen gekürzt werden, in erster Linie bei den Freischaffenden, 50 000 Franken bei Tanz und Theater.

«Das Geld ist das eine», sagt Anne-Marie Haller, «das andere ist die Arbeit, die auf einen Schlag weggefallen ist. Und das Schlimmste für mich war, dass plötzlich meine eigene Kreativität weg war, dabei hatte ich mich auf die immer verlassen können. Das war ein Schock.» Unter dem Pult steht eine Schachtel Flyer von ihrem aktuellen Film, «Das letzte Buch», den sie mit ihrer Ein-Frau-Produktionsfirma Anda-Production realisiert hat. Der Dokumentarfilm über die Berner Autorin Katharina Zimmermann, den Haller zu einem grossen Teil über Crowdfunding finanziert hatte, kam im Oktober in Bern ins Kino. Die Aufführungen waren so gut besucht, dass er 23 Wochen im Programm blieb – bis zum Lockdown. Ab April hatte Haller Vorführungen ausserhalb von Kinosälen in der ganzen Schweiz organisiert, in Kirchgemeinde- und Bibliothekssälen. Alle gebuchten Vorführungen mussten abgesagt werden, so etwas wie Ausfallhonorar bekommt Haller für diese Veranstaltungen nicht. Hinzu kam der Ausfall von Aufträgen, wie das Filmen von Chorkonzerten, die nicht stattfanden. «Ich bin nur darum nicht völlig in ein Loch gefallen, weil ich noch einen Schnittauftrag hatte und bis im Mai zu fünfzig Prozent daran arbeiten konnte.»

Die anderen fünfzig Prozent arbeitete sie an der Filmauswertung, stellte DVD und Video-on-demand fertig und begab sich auf eine Irrfahrt durch die Bürokratie, um an Gelder zu kommen. Als selbstständige Kulturschaffende erhielt sie schliesslich Kurzarbeit für die sechs Wochen des Lockdowns, für die restlichen Ausfälle hat sie das Recht auf Erwerbsersatzentschädigung. Doch da 2019 buchhalterisch für sie ein schlechtes Jahr war und die Berechnungen auf den letzten zwölf Monaten beruhen, lohnt sich der Aufwand für sie nicht. Geholfen hat ihr schliesslich eine private Spende – nun habe sie wieder etwas Luft.

Fragen auf dem RAV

Am 13. März, ein paar Stunden nachdem der Bundesrat den Lockdown verkündet hatte, hätte Meret Lüthi mit ihrem Orchester Les Passions de l’Ame in Bern die «Donnerode» von Georg Philipp Telemann aufgeführt. Gut drei Jahre Arbeit steckten in diesem Programm. «Vom 14. März an war ich eine Woche lang wahnsinnig müde. Ich war so gelähmt, weil ich dieses Riesenprojekt absagen musste, in das ich so viel Zeit und Leidenschaft gesteckt hatte.» Immerhin erhielt das Orchester vom Kanton für alle MusikerInnen ein Ausfallhonorar, Lüthi konnte Kurzarbeit beantragen, und die Telemann-Festtage in Magdeburg, wo sie das Programm Mitte März präsentiert hätten, zahlten auch einen Teil der Gage. Hinzu kam eine Einladung für die Festtage in zwei Jahren – was Lüthi sehr freut. Nun lernt sie Stücke für den Saisonstart, aber: «Es ist schwierig, einen Drive aufzubauen, wenn man nicht weiss, ob das Konzert überhaupt zustande kommt.» Doch die Hoffnung ist gross, dass sie bald wieder mit ihren MitmusikerInnen proben kann: «Endlich können wir diesen Hunger nach gemeinsamem Musikmachen wieder stillen.»

Theatermann Dennis Schwabenland, der Kurzarbeit beantragen konnte, ist derzeit beim Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) gemeldet. Ob er sich auch schon überlegt habe, sich umschulen zu lassen, habe ihn seine RAV-Beraterin vor kurzem gefragt. Das habe er tatsächlich, aber nicht im Moment. «Das Theater hat schon viel schlimmere Zeiten überlebt.» Und er ist überzeugt: Im Jahr 2021 wird das Theater sehr wichtig sein. «Wer ist systemrelevanter als diejenigen, die das, was im Moment passiert, reflektieren, in einem anderen Licht beleuchten und verhandeln, was das Ganze für gesellschaftliche Konsequenzen hat? Das alles kann man im Theater durchspielen. Zu behaupten, Kultur sei nicht systemrelevant, ist unglaublich arrogant.»