Durch den Monat mit Dagmar Pauli (Teil 2): Wieso betreffen Essstörungen mehr Mädchen als Jungen?

Nr. 27 –

Dass die Coronapandemie Jugendliche besonders belastet hat, zeigte sich auch an steigenden Zahlen im Notfall der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik der Universität Zürich, sagt Chefärztin Dagmar Pauli.

Dagmar Pauli
Dagmar Pauli: «Bei den Mädchen sorgt das Östrogen in der Pubertät für Fett und Rundungen – aber gemäss aktuellem Schönheitsideal sollen sie schmal und sportlich aussehen.»

WOZ: Frau Pauli, was hat Sie dazu gebracht, die Fachrichtung Psychiatrie einzuschlagen?
Dagmar Pauli: Ich habe mit fünfzehn das Buch «Ich hab dir nie einen Rosengarten versprochen» gelesen; darin wird einer an Schizophrenie erkrankten Patientin durch eine Therapeutin geholfen. Das habe ich ganz toll gefunden und gedacht: Das will ich auch werden! Im Medizinstudium war mir dann von Anfang an klar, dass ich Psychiatrie machen möchte. Aber auch ich muss mich immer wieder fragen: Welche Funktion hat eigentlich die Psychiatrie gesellschaftlich? Ich will ja nicht einfach nur eine Person sein, die die Kinder wieder zum Funktionieren bringt.

Eine Untersuchung der Universität Basel vom November 2020 ergab, dass fast dreissig Prozent der jungen Menschen zwischen 14 und 24 depressive Symptome zeigten.
Das war während der Coronapandemie. In diesem Zeitraum wurde das, was junge Menschen auch ohne Corona am meisten stresst – Schuldruck, Lernstress, Berufswahl –, noch signifikant verstärkt. Aber die Jugendlichen sind ja nicht einfach so depressiv, das hat auch mit dem realen Leben, mit ihren Zukunftsaussichten zu tun.

Was hat sich da geändert?
Meine Generation hat als Jugendliche mehrheitlich im Hier und Jetzt gelebt: Jetzt muss ich erst die blöde Schule machen, und danach weiss ich noch nicht. Heute ist für Lehre und Studium ein bestimmter Notenschnitt erforderlich. Es fragen sich viel mehr Jugendliche, ob sie das alles schaffen werden.

Wie hat die Pandemie da hineingespielt?
Schon für uns Erwachsene dauerte die Coronazeit lange, und die Zeitwahrnehmung verändert sich ja im Lauf des Lebens. Man muss sich mal vorstellen, wie das ist, wenn man vierzehn ist. Da kann man sich schon fast nicht mehr erinnern, dass es mal eine Zeit gab, in der man ohne Maske rumlaufen, unbesorgt an Feste gehen und alle Leute umarmen konnte. Die Jahre zwischen dreizehn und achtzehn sind so wichtig – und dann fällt zwei Jahre lang alles aus. Der 18. Geburtstag, der kommt ja nicht wieder! Oder die Klassenreise, das Schullager, die ersten Liebeserfahrungen – es war alles blockiert, all diese Erfahrungen konnten nicht gesammelt werden.

Und wieso hat sich der Schuldruck erhöht?
Unsere Gesellschaft kann einfach nichts weglassen. Niemand hat gesagt: Jetzt haben wir Onlineunterricht, da läuft das ein bisschen reduziert. In diesem Jahr streichen wir das und das aus dem Lehrplan. Ihr werdet eine gute Lehre und ein gutes Studium machen, auch wenn ihr das nicht behandelt habt. Alles musste nachgeholt werden, alles musste rein! Und so war der häufigste Grund für Depressivität der erhöhte Schuldruck durch die Pandemie. Auch dass sie den Stoff zu Hause selbst erarbeiten mussten, war für viele Kinder nicht zu schaffen. Für einige war die Hürde zu gross, die gingen danach einfach nicht mehr zur Schule, weil sie das Gefühl hatten: Ich habe so viel verpasst, das schaff ich nicht. Und dann gab es noch diejenigen mit Konflikten zu Hause, die sich nicht mehr mit ihrer Peergroup treffen konnten.

Zu Ihren Forschungsschwerpunkten gehören Essstörungen. Haben diese während der Pandemie auch zugenommen?
Vor allem Mädchen zwischen dreizehn und fünfzehn reagieren auf Druck häufig mit selbstschädigendem Verhalten, mit Selbstverletzungen, Essstörungen, depressiven Krisen, suizidalem Verhalten, Angst. Und zwar, weil sie mehr auf soziale Kontakte angewiesen sind und – auch wenns ein geschlechtertypisches Klischee ist – tendenziell alle Anforderungen erfüllen wollen. Während der Coronapandemie nahmen die Fälle von Magersucht zu, auch weil man mehr Zeit hatte, zu Hause zu sitzen und sich mit Influencerinnen statt mit realen Menschen zu vergleichen.

Sie haben «Size Zero», ein Buch über Essstörungen, geschrieben. Was war der Anlass?
Ich bin seit vielen Jahren auf dieses Thema spezialisiert. Da kommen all die jungen Mädchen, die denken, sie sind fett, die sich hassen und die wir dann wieder «gesund» machen müssen, damit sie sich wieder gernhaben. Und da sah ich auf der Strasse ein riesiges Plakat mit Werbung für Brustoperationen, vorne drauf ein hübsches, junges Mädchen und der Spruch: «Meine Dinger – mein Ding!» Als ob sich eine Frau selbstbewusst und völlig unbeeinflusst von aussen entscheiden würde, ihre Brüste operieren zu lassen.

Wieso betreffen solche Probleme mehr Mädchen als Jungen?
Weil das aktuelle Schönheitsideal für Frauen ist, möglichst wenig weiblich auszusehen, sondern schmal und sportlich, während Männer möglichst männlich und muskulös sein sollen. Das ist für Jungen auch nicht ganz einfach erreichbar, aber bei ihnen bewirkt das Testosteron in der Pubertät einen Muskelaufbau. Bei den Mädchen hingegen sorgt das Östrogen für Fett und Rundungen. Es kann doch nicht sein, dass die weibliche Pubertät in unserer Gesellschaft so negativ bewertet wird – das ist nicht in Ordnung!

Dass sich Heidi Klum in der Sendung «Germany’s Next Topmodel» heute nicht mehr traut, einer Kandidatin zu sagen: «Guck mal deinen Bauch an!», sei zwar nur ein Tropfen auf den heissen Stein, sagt Dagmar Pauli (58), aber es sei gut, dass Themen wie Bodyshaming jetzt öffentlich diskutiert würden.