Durch den Monat mit Dagmar Pauli (Teil 1): Sollten junge Eltern Erziehungskurse besuchen?

Nr. 26 –

Dagmar Pauli ist Fachfrau für psychische Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen und interessiert sich nicht nur für die sogenannten Störungen, sondern auch dafür, wie diese gesellschaftlich verursacht und beeinflusst werden.

Dagmar Pauli
«Man hat so viele Informationen, die man googelt, in Ratgebern liest, und die widersprechen sich zum Teil auch noch. Hier kann eine frühe Beratung entlastend wirken»: Dagmar Pauli.

WOZ: Frau Pauli, Sie sind Chefärztin an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich. An einem heissen Nachmittag haben kürzlich viele Lehrpersonen und Schulleitungen auf ein Bad im See verzichtet, um Ihren Vortrag zum Thema «Wie bleiben Jugendliche gesund?» zu hören. Gehört das auch zu Ihrem Job?
Dagmar Pauli: Ich finde eigentlich immer mehr, dass die Frage, wie Jugendliche gesund bleiben, zu unserem Job gehört. Offiziell lautet unser Auftrag, die Gesundheitsversorgung für psychisch kranke Kinder und Jugendliche im Kanton Zürich sicherzustellen. Doch manchmal ist die Arbeit, Menschen in Krisen aufzufangen, wie ein Fass ohne Boden. Man muss früher ansetzen! Deshalb wünschen wir uns auch, dass Prävention stärker zu unserem Auftrag gehören würde.

Wo könnte man früher ansetzen?
Wir wissen zwar, wie psychische Störungen entstehen und wie man sie möglichst effektiv behandelt. Besser wäre aber, wenn wir früher erkennen würden, dass jemand eine Essstörung bekommt oder depressiv wird. Und noch besser wäre, wenn wir durch Prävention in Frühberatung, in Kindergärten und Schulen verhindern könnten, dass Kinder und Jugendliche bei uns behandelt werden müssen! Man muss nicht warten, bis Kinder mit einer Depression in der sechsten Klasse sitzen.

Siebzig Prozent aller psychischen Störungen beginnen im Jugendalter, sagten Sie – nicht schon in der frühen Kindheit?
Nicht nur in der Kindheit! Im letzten Jahrhundert fand man heraus, wie wichtig die ersten Lebensjahre sind. Wie das Umfeld die Neugeborenen in Empfang nimmt, wie die Beziehungen zu elterlichen Bezugspersonen laufen, spielt eine wichtige Rolle, weil man dort Muster einübt und die Tendenz hat, diese im späteren Leben zu wiederholen. Aber die Forschung ergab auch, dass Menschen schon etwas mitbringen: Genetik, Temperament und so weiter. Das alles interagiert sehr komplex. So lassen bestimmte Umweltbedingungen bestimmte Gene zum Zuge kommen und andere nicht. Es gibt berühmte Studien aus den nuller Jahren, die ergaben, dass etwa Kinder, die früh vernachlässigt und misshandelt wurden, später besonders dann bestimmte depressive Störungen entwickelten, wenn sie auch noch bestimmte Genkonstellationen aufwiesen.

Das weiss man heute so genau?
Man weiss es nur in einigen bestimmten Bereichen, die dann exemplarisch sind. Im Grunde ist das menschliche Gehirn insgesamt noch schlechter erforscht als das Weltall. Man weiss ganz vieles nicht. Aber weil wir die Gene nicht beeinflussen können, konzentrieren wir uns auf die Umweltfaktoren. Wie laufen Beziehungen? Wie werden Kinder gefördert und gefordert durchs Elternhaus? In Peergroup und Schule können noch viele korrigierende Erfahrungen gemacht werden, mit guten Vorbildern, die ausgleichend wirken.

Was kann man denn vorbeugend machen?
Schauen, dass Kinder ein gutes Selbstwertgefühl entwickeln, lernen, Schwierigkeiten selbst zu meistern, aber auch, sich Hilfe zu holen, wenn das nicht funktioniert. Und dass sie lernen, Gefühle auszudrücken. Das lernen sie in Beziehungen zu Erwachsenen, und das schützt sie, um im Jugendalter mit Krisen fertig zu werden und nicht depressiv oder suizidal in unserem Notfall zu landen.

Elternberatung gehört auch zu Ihren Aufgaben?
Die Eltern der Kinder, die hier in Behandlung sind, wurden schon immer im Umgang mit der psychischen Störung intensiv beraten, aber auch in Fragen, wie sie ihren Alltag gestalten können und mit den Anforderungen von Schule, Pubertät et cetera zurechtkommen können.

Kommen auch Eltern, deren Kind nicht krank ist, einfach so zur Beratung?
Nein, es geht immer über das als Patient:in gemeldete Kind, sonst zahlt ja auch die Krankenkasse nicht. Ich denke aber, Eltern sollten schon viel früher beraten werden, nicht erst, wenn das Kind schon eine Störung mit Krankheitswert hat. Hier gibt es ja Jugendberatungsstellen, Elternnotruf und so weiter, aber Beratung sollte noch viel flächendeckender angeboten werden.

Sollten junge Eltern denn Erziehungskurse besuchen wie Hundehalter die Hundeschule?
Warum nicht? Samt Auffrischen, weil ja jedes Alter andere Anforderungen stellt. Ich glaube, das Grundgefühl vieler Eltern heutzutage ist Überforderung. Man war zwar auch früher überfordert, aber die Orientierungslosigkeit hat in den letzten Dekaden nochmals zugenommen. Man hat so viele Informationen, die man googelt, in Ratgebern liest, und die widersprechen sich zum Teil auch noch. Hier kann eine frühe Beratung entlastend wirken. In erster Linie fehlt unserer Gesellschaft die Ressource Zeit, und Zeit wäre ja eine Voraussetzung für Beziehungen. Man kann fast nicht ohne Beschäftigung sein und ohne Hin- und Herfahren. Dazu Gespräche in der Schule, Termine hier und Termine da. Eltern sind heute im Beruf zeitlich oft so gefordert, dass ihnen auch privat die Musse fehlt, sich mit den Kindern zu befassen und ihnen nah zu sein. Zeit fehlt allen: Eltern, Lehrpersonen und Kindern.

Dagmar Pauli (58) findet überhaupt nicht, dass die Schüler:innen immer schlechter werden. Sie trainieren vieles, was andere Generationen nicht kannten, und das sei nicht schlecht, sondern einfach anders.