Literatur: Sehnen nach hohem Gras

Nr. 27 –

«Schon seit den frühen Stunden fuhr der Wind durch die Sträucher. Auf der Wiese des Nachbars grasten ein paar Kühe. Ihr Pusten war deutlich zu hören. Beim Betrachten der Kühe erwachte in Olga ein kleines, aber heftiges Sehnen nach hohem Gras.» Solch unspektakuläre, aber wunderbar poetische Sätze prägen die Prosa der 78-jährigen Bündner Autorin Leta Semadeni. Das neue Buch der Lyrikerin ist, wie ihr 2015 erschienener und preisgekrönter Prosaerstling «Tamangur», kein Roman – anders als das auf den Umschlägen beider Bücher angekündigt wird.

Der Reiz dieses Textes, der 105 Erzählskizzen, Beobachtungen, Konfessionen und Reflexionen bündelt, liegt in der lyrischen Intensität und der unverwechselbaren zarten Wucht der Sprache. Das Mädchen, das in «Tamangur» erzählte, ist nun die ältere Frau Olga. Sie berichtet von ihrem Alltag im Dorf und erinnert an ihre schwierige Liebesgeschichte mit Radu: Sie war dem Dokumentarfilmer in Ecuador begegnet und verfallen, doch der Rastlose entzog sich ihr immer wieder – zu Filmarbeiten oder zu Abenteuern wie dem Zählen der noch verbliebenen Tiger am Fluss Amur. Olga bleibt dem inzwischen verstorbenen Mann in grosser Ambivalenz verbunden. Sie vergegenwärtigt Zärtlichkeit und Schmerz ihrer Begegnungen und Abschiede auf prägnanten Tableaus. Aber auch ihre Grossmutter und ihre Freundin Elsa werden präzis porträtiert und zu Selbstreflexionen genutzt.

«Olga gefiel es, die Zeit in umgekehrter Richtung abzutasten. In Notzeiten war die Erinnerung ein Kissen, in das sie gerne ihren Kopf legte», umreisst die Protagonistin ihr Programm. Dabei erzählt Semadeni selten chronologisch, sie vertraut ganz den assoziativ auftauchenden Erlebens- und Erinnerungsfragmenten: «Olga gefiel das Wort ‹mäandern›» – heisst es dazu passend im Buch.

Semadenis unprätentiöse Kunst der Verdichtung und ihr Bewusstsein, «dass es tausend Dinge gab, die auch mit der grössten Sorgfalt nicht wirklich benennbar waren», machen die Lektüre zu einem literarischen und gedanklichen Genuss.

Leta Semadeni: Amur, grosser Fluss. Atlantis Verlag. Zürich 2022. 192 Seiten. 32 Franken