Peter Brook (1925–2022): Der Funke von der Bühne in den Saal

Nr. 27 –

Er erfand die grundlegenden Ausdrucksmittel der Theaterkunst neu und hat auch als Opern- und Filmregisseur Bedeutendes geleistet: Mit 97 Jahren ist der Humanist Peter Brook verstorben.

Peter Brook
Destillateur des Reinen und Wahren: Peter Brook hat mit seinen Produktionen immer wieder Theatergeschichte geschrieben. Foto: Richard Dumas, Agence Vu, Keystone

Der Name von Peter Brook evoziert unmittelbar das Théâtre des Bouffes du Nord, seine Pariser Wirkungsstätte: ein Gefühl von Weite und von Intimität. Gedämpfte Farben, nirgends eine Spur von Gold oder Samt. Stattdessen verwitterte Wände und schmale, knirschende Holztreppen zu den Rängen. Dort eine fürchterliche Enge, vor allem in der ersten Reihe; im Parkett hingegen, zu Füssen der im Halbkreis angeordneten Sitzreihen, bisweilen dicke Kissen, auf denen sich ein paar Glückliche niederlassen durften. Der Saal besitzt eine frappante Ähnlichkeit mit den Aufführungen, die darin stattfanden – eine Mischung aus asketischem Ästhetizismus und sublimierter Sinnlichkeit.

Magischer Mechanismus

Seit den neunziger Jahren eignete allen Produktionen Brooks der Charakter von Kammerspielen. Neben Originalwerken mit kleiner Besetzung brachte der Regisseur auch Klassiker zur Aufführung, die er mit seinem Texter und Übersetzer Jean-Claude Carrière so bearbeitet hatte, dass sie jedem Publikum verständlich (und kurzweilig) vorkamen. So etwa die Shakespeare-Adaptierungen «Der Sturm» und «Hamlet»: Nebenfiguren und -episoden wurden da gestrichen, dunkle Passagen und Wortspiele vereindeutigt, die narrativen Hauptstränge freigelegt mit dem Ziel, die Zuschauer:innen möglichst nah an die eigentliche Geschichte heranzuführen. Überhaupt: «Zuschauer» und «Geschichte» sind die beiden Kernbegriffe von Brooks Theaterphilosophie. Im Zentrum seiner lebenslangen Suche stand der immaterielle, magische Mechanismus, der den Funken von der Bühne in den Saal überspringen lässt, von den Schauspieler:innen zum Publikum und vom bedruckten Papier ins Herz und Hirn der Zuschauer:innen. Wichtiger als alles andere war es ihm, eine Handlung klar und plastisch zu vermitteln. Im Lauf jahrzehntelangen Experimentierens mit improvisierten Auftritten in Dörfern in mehreren afrikanischen Ländern oder Pariser Banlieue-Schulen hatte er die grundlegenden Ausdrucksmittel der Theaterkunst quasi neu erfunden: Pantomime, Gesang, Lautsprache, Anrede eines imaginären Widerparts im Saal …

Freilich täte man Brooks Kunst und Können Unrecht, wollte man sie lediglich in einem Katalog dramaturgischer Kniffe resümieren. Begonnen hatte der 1925 in London geborene Regisseur als Shootingstar des kommerziellen britischen Theatersystems. Dann gab ihm die Londoner Royal Shakespeare Company die Gelegenheit, mit zehn jungen Schauspieler:innen drei Monate lang zu experimentieren. So begann 1963 ein Prozess, der den Regisseur die Grundlagen seines Metiers hinterfragen lassen würde. Etliche Produktionen, die diesem und späteren Workshops entsprangen, machten Theatergeschichte, etwa «Marat/Sade» von Peter Weiss (1964) als schockhafte Phänomenologie des Wahnsinns oder das Kollektivwerk «US» (1966) als Stellungnahme zum Vietnamkrieg.

Nach der Gründung des Pariser Centre International de Recherche 1970 befasste sich Brook zunehmend mit fernöstlichen Mythen. So kam es 1971 in den Ruinen der iranischen Königsstadt Persepolis zur Aufführung von «Orghast», einem Stück in Lateinisch, Altgriechisch, Avestisch – einer persischen Ritualsprache – und einem eigens von Ted Hughes erfundenen Idiom. Wenig später folgte «The Conference of the Birds» nach einem Klassiker des Sufismus: die Parabel einer Reise zur Erleuchtung. Brooks Opus magnum war jedoch das 1985 in Avignon präsentierte, rund neunstündige «Mahabharata». Die Adaptierung des indischen Epos beschwor fernöstliche Sinnlichkeit, Poesie und Grandeur herauf, ohne auf exotischen Pomp, Deklamationsstil und Weihrauchstäbchen zu rekurrieren. Emblematisch war die ethnische Durchmischung der Truppe, von der etliche Mitglieder Langzeitgefährten des Regisseurs wurden – so Sotigui Kouyaté, Yoshi Oida und Bakary Sangaré.

Doch nicht nur als Theater-, auch als Opernregisseur hat Brook Bedeutendes geleistet. Namentlich «La Tragédie de Carmen» nach Bizet (1981) und «Impressions de Pelléas» nach Debussy (1992) erschlossen Neuland. Das Orchester wurde da stark reduziert, die Handlung auf die Hauptfiguren eingedampft. Zur subkutanen Wirkungskraft der atmosphärisch reichen Produktionen trugen auch die zeichenhaften Dekors von Brooks langjähriger Bühnenbildnerin Chloé Obolensky bei.

Sturmszene mit toten Ratten

Und schliesslich hat sich der Bühnenschöpfer auch als Cineast profiliert. Mehr noch als «Lord of the Flies» (1963) nach William Golding und «Moderato Cantabile» (1960) nach Marguerite Duras besticht sein «King Lear» von 1971 bis heute. Die Sturmszene mit ihrem halluzinatorischen Wechsel aus flauen Lichtschlieren und Augenblicken völliger Schwärze, den aufblitzenden Bildern toter Ratten und der nackten, regentriefenden Leidensmannsgestalt des Poor Tom ist von orkanartiger Wucht – herkömmliche Theateraufführungen wirken dagegen wie laue Lüftchen. Auch bescheinigte die differenzierte Charakterzeichnung der «bösen» Lear-Töchter Regan und Goneril dem Regisseur die Fähigkeit, den Standpunkt jeder Figur einzunehmen, nicht nur den des Titelhelden.

So war Peter Brook, der grosse Destillateur des «Reinen und Wahren» – dies seine beiden Lieblingswörter –, auch ein Humanist. Am 2. Juli ist er in Paris im Alter von 97 Jahren gestorben.