Von oben herab: In die Sonne
Stefan Gärtner übers Frühstücksradio und das Flughafenchaos
Was wohl aus meinem Frankfurter Mitbewohner Arne geworden ist? Ich habe seinen Nachnamen vergessen, kann also auch nicht googeln und weiss nur mehr zwei Dinge: dass Arne vom falschen Plural «Spaghettis» nicht abzubringen war und er ein Reisebüro eröffnen wollte, Arbeitstitel: «Langsam reisen», also mit dem Frachter nach Amerika statt mit dem Flugzeug. Im Internet gibt es solche Angebote zwar, aber keins davon scheint mit Arne zu tun zu haben. Jetzt lebt er in Berlin, und das ist ja auch etwas.
So richtig eingeschlagen hat die Idee ohnehin nicht. Die Leute, falls sie dürfen, reisen zwar wie angestochen, aber nicht mit dem Frachter, sondern mit dem Flugzeug. Aus Gründen, die ich nicht verfolgt habe – ich bin seit 2013 nicht mehr geflogen, und da war es dienstlich –, fehlt dem Flugbetrieb Personal, und darum hat «Blick TV» seinen Moderator Reto Scherrer samt Reporter durch Europa geschickt, damit sie vom «Chaos» berichten: ewig lange Schlangen, dicke Verspätungen, und in London, erfahren wir, herrscht nicht ganz so viel Chaos wie in Amsterdam, aber «es tauchen doch Probleme auf». Natürlich hat die deutsche «Bild»-Zeitung etwas Ähnliches im Programm: «Flughafen-Chaos immer schlimmer: Ich wartete vier Stunden auf meinen Koffer!», denn erstens ist «Chaos» immer gut, weil es, zumal im aufgeräumten Europa, die bürgerliche Urangst vorm Durcheinander stimuliert, und zweitens ist Flughafenchaos noch besser, denn so schlimm können die Klimaprognosen gar nicht sein, dass, fällt im April nach dem sommerlichsten März aller Zeiten endlich Regen, nicht jemand in die Runde fragt, wo sich denn auf die Schnelle noch «in die Sonne» fliegen lasse.
In die Sonne fliegen, das ist wie Brot kaufen, schlicht nicht verhandelbar, und die Wette würde ich halten: dass ich, und werde ich auch steinalt, das Ende des steuerbefreiten Flugbenzins nicht mehr erlebe. Zweierlei ist nämlich Grundrecht: dass die Sonne scheint und man jederzeit in die Sonne fliegen kann. Fürs Frühstücksradio, das in der Welt ist, um den Leuten den ewigen Sommer zu bringen, ist die Gleichung unverrückbar: Sonne = gut, ob es nun zur Jahreszeit passt oder nicht, und bricht im Februar, nach drei Wochen Winter, der Frühling an, wird das gefeiert, als gäbe es ein Morgen. Sonne, das heisst schliesslich gute Laune, den Grill anwerfen und sich nackt machen können, und leicht liesse sich statistisch klären, ob die Zunahme der Sonnenstunden und der Tätowierwahn positiv korrelieren.
Aber bitte erst nach dem Urlaub, den ich vorm flugfrei zu erreichenden Ferienhaus im Schatten zu verbringen gedenke, um auf die Leute herabzusehen, die zwanghaft in die Sonne fliegen und publizistische Sachwalter wie den Scherrer sich beschweren lassen, wenn das Herumfliegen mal nicht ohne Chaos möglich ist. Dabei ist es völlig falsch, die sogenannte kleine Frau zu verachten, die tagein, tagaus für schlechten Lohn schuftet und sich in den Ferien an den Strand legen und bedienen lassen will, wie Konsumkritik sowieso ins Leere läuft, wenn sie nicht nach dessen Funktion fragt. Im Fernsehen geht es um teure Energie und Tankrabatte, um die Autowaschanlage aber windet sich wie gehabt eine hundert Meter lange Schlange von Fahrzeugen mit laufendem Motor, und keins davon ist ernstlich schmutzig. Und also hat der Konsumkapitalismus alles richtig gemacht und kann sich Ideologiekritik den Mund fusselig reden.
Nun könnte man sagen: Schafft das Frühstücksradio ab. Das geht aber leider nicht, wegen der Pressefreiheit, von welcher Peter Rühmkorf einmal schrieb, sie sei die Freiheit der Leute, denen das Papier gehört. Dann macht das Kerosin teurer; dann kommt aber die kleine Frau nicht mehr an den Pool. Und schon sind wir wieder an dem Punkt, wo wir sagen müssen: Solange die Sonne nicht für alle scheint, brauchen wir übers Wetter nicht zu reden.
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.
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