Von oben herab: Was sich erreichen lässt
Stefan Gärtner kommt gerne morgens an
Es ist ja gar nicht wahr, dass sich auf dieser Welt keine Träume erfüllen lassen, Träume, die nichts mit den Abenteuergutscheinen von Mydays oder Jochen Schweizer zu tun haben, die den Traum zur Ware machen und das Geschenk zum All-inclusive-Klick und beides zur Vulgarität; falls der Tag im Turboporsche oder betreuten Survivalcamp das nicht sowieso ist. «Du bist, was du erlebst!» (Schweizer): Bei Heine hiess es noch, wir seien, was wir gelesen, aber diese Zeiten sind vermutlich vorbei.
Im Sommer vor fünf Jahren bin ich Nachtzug gefahren, das erste Mal, seit ich mit sechzehn im Liegewagen in den Sprachurlaub gerollt war. Ein Vierteljahrhundert später stand ich früh um halb eins mit Freund A. am Gleis und wartete auf den Nachtzug nach Prag, weil wir nach Pilsen wollten, zum Gucken und Pilstrinken. Wir hatten ein richtiges Abteil mit richtigen Betten, ein paar Flaschen Fahrbier dabei, und dann fuhren wir, und dann schliefen wir ein, und eleganter, romantischer, schöner ging es ja nun nicht, auch wenn es das Frühstück nicht, wie in den Romanen Eric Amblers, im Speisewagen, sondern in Plastik gab, zum Verzehr im Abteil. Wie schön es ist aufzuwachen, und die Sonne scheint durchs Abteilfenster, und man ist ganz woanders als beim Einschlafen, und wer jetzt sagt, das sei beim Fliegen doch genauso, hat nur abstrakt recht. Wer im Flugzeug erwacht, sieht Wolken, und wenn er bis zur Landung geschlafen hat, sieht er einen Flughafen, eine Passkontrolle, ein Gepäckband, einen Bus und erst dann sein Reiseziel.
Die Reise im Zug ist dagegen bereits die Reise selbst, schon weil man den Weg, den man zurücklegt, jederzeit hört und spürt und man zwischendurch aussteigen könnte; dass man es nicht tut, macht nichts. Nachts mag die Blase drücken, und der Zug hält vielleicht auf einem einsamen nächtlichen Bahnhof, wer wüsste wo!, und dass man Pyjama trägt, ist gerade der Reiz. Sicher lässt sich heut’ für den Preis einer (Zürcher) Pizza nach Spanien fliegen, was allerdings ausschliesst, stundenlang am offenen Fenster zu stehen und in die wechselnde Landschaft zu träumen. Als ich vor dreissig Jahren Interrail machte, gingen die Fenster noch auf, und das geht natürlich nur, wenn der Zug nicht allzu schnell fährt: sic.
Den ganzen Entschleunigungsquatsch brauchts ja bloss darum, weil vorher so wunderbar viel Zeit gespart worden ist. Als Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga jetzt dienstlich mit dem Nachtzug nach Wien fuhr, lautete die Kritik «bürgerlicher Politiker» (SRF), «Zugreisen seien wenig effizient, und es gehe viel Zeit verloren», was wirklich ein fantastisch oder sogar fanatisch vernageltes Argument ist. Zeit geht ja gar nicht verloren, um wie viel weniger nachts, und dass sich ein Wochenendtrip nach Lissabon per Bahn nicht unternehmen lässt, setzt nicht die Bahn ins Unrecht, sondern die zeitgenössisch deformierte Ansicht, man sei, was man erlebe, die Komplementäridiotie zur zumal schweizerischen Überzeugung, man sei, was man schaffe. Schreiben wir: «Du bist, was du erreichst», und wir haben beide Idiotien in einem Satz.
«Sie hat es wirklich getan», höhnt da die NZZ: «Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga ist mit dem Nachtzug zum Arbeitsbesuch nach Wien gefahren und erklärt der Nation, wie das geht. Peinliche Propaganda in Zeiten der Klimakrise.» Oder eben prima Propaganda fürs rechte Mass: Reisen gern, aber so, dass es nicht nur jene stumpfe Instrumentalität kopiert, deren Gegenteil das Reisen sein könnte. Reisen, das ist nicht, mal eben nach Paris zu fliegen, um ein Smartphonefoto von der Mona Lisa zu schiessen; das ist bloss Barbarei. Reisen, das ist, wenn man sagen kann: Ich war unterwegs, ich habe nachts auf einen verlassenen Bahnsteig geblickt, und morgens schien die Sonne ins Abteil.
Und fotografiert habe ich nichts davon.
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.