Griechenland: Viele Gärtner, kein Garten

Nr. 20 –

Abseits der Demonstrationen wird selbst im berüchtigten Athener Anarchistenviertel Exarchia mehr flaniert statt demonstriert. Doch die Angst vor dem Kollaps wächst. Unterwegs im Krisenland.


«51 807 griechische Wörter in den Sprachen der Welt, 5000 Jahre Zivilisation, 2600 Jahre Demokratie, ein Bier: Mythos.»

Werbung in Athens Flughafen Eleftherios Venizelos

«Bad place», sagt der Taxifahrer am Syntagma-Platz, als wir ihn nach dem Preis einer Fahrt in Athens Anarchistenviertel Exarchia fragen. Der räudige Hund, der neben uns über den Fussgängerstreifen getrottet ist, als sei er unser Maskottchen, pisst an die Radkappe des Taxis. Es ist nach Mitternacht, und die Fahrt wird teuer. Der Taxifahrer bietet uns eine Zigarette an, macht auf Fremdenführer und knöpft uns dreimal mehr ab als üblich. Kaum sind wir in eine unbeleuchtete Strasse eingebogen, warnt er uns unablässig vor den AnarchistInnen. Dann steigen wir aus, und es ist bloss dunkel.

In diesem Viertel also soll der Kern der GewalttäterInnen leben, Zweitausend sollen es sein, von denen Gefahr ausgeht. Brechen Unruhen aus, ist Exarchia das Epizentrum. Dann wabert Tränengas an der Ecke Metaxa-Themistokleus ins Hotel Exarchion, in dem wir absteigen. Beim Gang durchs Quartier stossen wir auf Spuren der Unruhen – ausgebrannte Autowracks und angekohlte Abfallcontainer. Und allgegenwärtig die Sprayereien und Plakate mit politischen Botschaften. Exarchia liegt in Athens Zentrum. Einst war es ein gutbürgerliches Wohnquartier. Heute ist es Ausgeh- und Szeneviertel vieler Jugendlicher. In den Parks und besetzten Häusern dröhnen bis in die frühen Morgenstunden die Verstärkeranlagen. Junkies betteln in den Strassencafés um einige Cents. Im Mai sind die Temperaturen angenehm, und das Leben spielt sich draussen ab. Nicht wegen Molotowcocktails, Krawallen oder Tränengas ist im Hotel Exarchion vor Sonnenaufgang an Schlaf nicht zu denken, sondern weil die Menschen zu lauter Musik in den Strassen und Gassen feiern, essen, Mythos trinken und sich stundenlang dem Brettspiel Tavli hingeben. Die Stimmung im berüchtigten Anarchistenviertel ist zwei Wochen nach den Krawallen vergleichbar mit der bekifften Triphopmusik, die hier in vielen Bars plätschert: ziemlich easy.

Ein Drittel staatliche Jobs

«Da haben Sie sich ja eine Ecke ausgesucht», sagt Werner van Gent, als wir ihn am nächsten Morgen an der Vala Oritou im Herzen der griechischen Metropole treffen. Hier arbeitet der Korrespondent von Schweizer Radio und Fernsehen DRS seit dreissig Jahren. Seine Frau und er lebten vierzehn Jahre in Exarchia. Dann kehrten sie dem Viertel den Rücken. «Zu viele Drogen, zu viel Tränengas», sagt van Gent. Während der Staat für die Bekämpfung des Drogenelends kein Geld übrig hat, stopfen sich PolitikerInnen und ihre Klientel die Taschen voll. Das sei symptomatisch für dieses Land in der Krise. Dieses System sei höchst ungerecht, wer nicht auf ein gutes Netz bauen könne, habe keine Chance auf eine der Staatsstellen, sagt van Gent.

Alle anderen kämen sowieso besser nicht in Berührung mit diesem Staat. Allein die ausstehenden Steuern beliefen sich auf schätzungsweise zehn Milliarden Euro. Nicht einmal die staatliche Verwaltung weiss, wie viele Angestellte beim Staat beschäftigt sind. Eine Selbstdeklaration im Internet soll demnächst Klarheit schaffen: Wer nicht teilnimmt, ist draussen. Heute schätzt man, dass über eine Million der drei Millionen Arbeitsplätze in Griechenland staatlich sind. Sowohl Linke als auch Rechte seien Teil des Spiels. Die Rechten bezeichnet van Gent als «Staatskapitalisten».

Welch absurde Blüten dieses System treibt, erläutert van Gent am Beispiel eines Athener Spitals, das dreissig GärtnerInnen beschäftigt, aber keinen Garten hat. Er erzählt von kleinen Gemeinden, die eine Abfallentsorgungsfirma gründen mit einem aufgeblähten Verwaltungsapparat, damit sich möglichst viele dranhängen können. Angesichts der allgegenwärtigen Verschwendung lasse sich das vorgegebene Ziel, bis 2013 dreissig Milliarden Euro zu sparen, kaum erreichen. Van Gent sagt, Griechenland sei im Grunde ein von der EU alimentierter kommunistischer Staat. Trotzdem hält er nicht viel von den neoliberalen Rezepten, die Griechenland jetzt aufgezwungen werden: Rentenkürzungen, Abbau von Sozialleistungen, Lohnsenkungen.

Tief hinten im breiten Boulevard 28. Oktober wogt ein rotes Fahnenmeer und blühen Hammer und Sichel. Die Kommunistische Partei Griechenlands hat Zehntausende mobilisiert, um gegen das Sparprogramm der Regierung zu protestieren. Aleka Papariga, die Generalsekretärin der Kommunistischen Partei, führt, abgeschirmt von bulligen Leibwächtern, den Umzug an. Die Sparmassnahmen seien ein Angriff auf die ArbeiterInnen, die Regierung habe dem Volk den Krieg erklärt. Deshalb müsse nun mit einer Politik von unten ein Aufstand gegen die Regierung folgen, ruft sie der Menge zu. Der Umzug führt vorbei an jener Filiale der Marfin-Egnata-Bank, in der Anfang Mai bei Krawallen drei Menschen verbrannten und vor der nun ein Berg Plüschtiere und verdorrte Blumen und Briefe an die drei Toten erinnern. Die Demonstration ist militärisch organisiert, der Ordnungsdienst der KommunistInnen, rund zweihundert Männer mit Schlagstöcken und Motorradhelmen, marschiert vorneweg und schützt bei der Schlusskundgebung in einem Spalier das Parlamentsgebäude. Es soll keine Krawalle geben. Nichts zu machen für schwarz gekleidete AnarchistInnen, die das Geschehen beobachten – Motorradhelme und Lederhandschuhe griffbereit. Die KommunistInnen sprechen von der grössten politischen Kundgebung seit Ende der Militärdiktatur 1974, die internationale Presse nimmt kaum Notiz von der Grossdemonstration. Man sagt, hier in Griechenland seien 40 000 DemonstrantInnen wenig, 80 000 viel und bei 500 000 stürze die Regierung.

«Die verlorene Generation»

Francesca treffen wir in einem idyllischen Strassencafé in Thissio, in einem wohlhabenden Viertel unterhalb der Akropolis. Die 33-jährige Künstlerin zählt sich zu jenen, die keine Beziehungen und deshalb keine sichere Stelle beim Staat haben. Diese 700-Euro-Generation schlägt sich mit schlecht bezahlten Jobs durch und hat trotz guter Bildung kaum Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt. Derzeit arbeitet Francesca an einem Internet-TV-Projekt – ohne Bezahlung. Im Gegensatz zu vielen ihrer Freunde, die noch bei ihren Eltern wohnen, weil das Einkommen nicht für eine eigene Wohnung reicht, lebt Francesa allein, die kleine Wohnung sponsert ihr Vater. Wohneigentum ist das Sparbuch der GriechInnen. Rund achtzig Prozent sind Wohneigentümer. 200 000 Eigentumswohnungen stehen leer, weil sich ihre Vermietung nicht rechnet.

«Von uns sagt man, wir seien die verlorene Generation», sagt Francesca. Es ist nicht so, dass alle jungen Leute nur zuhause herumsitzen. Dieses Land hatte immer wieder schwere Wirtschaftskrisen durchlebt. Vor allem aber sind die Auswirkungen der jüngsten Krise noch nicht zu spüren. Die Arbeitslosenquote liegt bei zehn Prozent. Bald sollen es fünfzehn bis zwanzig Prozent sein, und soeben ist wegen Krawall und Krise auch noch der Tourismus eingebrochen. Zehntausende Übernachtungen wurden im Mai 2010 abgesagt.

Die milde Nachmittagssonne taucht Thissio in mildes Licht, Francesca bestellt Eiskaffee, rückt ihre Ray-Ban-Sonnenbrille zurecht und lächelt. Nichts hier passt zu dem, was die Künstlerin erzählt – nicht zu ihrem Lächeln und ihrer entspannten Art, nicht zum herausgeputzten Quartier: «Die jungen Leute erwarten nichts von der Zukunft. Viele junge Griechinnen, die ich treffe, wollen keine Kinder auf die Welt stellen, weil sie den Kollaps erwarten.» Francesca selbst ist nicht in Panik, «aber meinen Freunden, die Familie haben, geht es anders».

Die Frau hat einen Kurzfilm gedreht über die Krise und darüber, wie sich die jungen Menschen in Athen fühlen: Unterlegt von abstrakten, gleichförmigen Tönen huschen junge Menschen durch den Film und bewegen sich auf einen Abgrund zu. Die Sonne ist weg, es regnet ununterbrochen.

Dann stösst Dimitrios zu uns. Der Investmentbanker ist 36 und verdient 40 000 Euro im Jahr. Und er ist in Panik. «Wir sind alle Griechen», sagt er und trommelt mit den Fingern auf sein Handgelenk. «Heute trifft die Krise Griechenland, morgen die Welt.» Griechenland sei das Symptom einer globalen Krise. «Die Kredite, die Ratings ... Ich schaue den ganzen Tag in Bloomberg-Bildschirme und werde langsam verrückt.» Seit der Einführung des Euros sei das Leben teurer geworden, die Löhne in der Privatwirtschaft jedoch stagnierten. Der Banker hat am Generalstreik teilgenommen. Er habe Angst um sein Land, Angst um seine Stelle, wenn er mit drei Freunden zusammensitze, wisse er, dass einer von ihnen demnächst arbeitslos sein werde. Dimitrios gehört zur Mittelschicht. Jetzt droht, was seither aufgebaut wurde, verloren zu gehen.

Eine Verschwörung?

Kaum werde protestiert, tauchten aus dem Nichts Vermummte auf, die eine Bank anzünden. Das schwäche die Protestbewegung erheblich. Eine Verschwörung? Dimitrios ist nicht der Erste, der darauf anspielt. Verdächtige, ausländisch sprechende Männer seien in einem Geschäft neben der Bank gesichtet worden, Minuten bevor sie in Flammen aufging. Und seither hält sich in Athen das Gerücht, der griechische Geheimdienst habe Albaner angeheuert, um die Proteste eskalieren zu lassen. AlbanerInnen sind die unbeliebteste Bevölkerungsgruppe in Griechenland, und Dimitri, der sich für das Gespräch bedankt und hofft, dass wir der Schweiz ein gutes Bild von den GriechInnen vermitteln, muss dringend los.

Von Verschwörungstheorien halten die Anarchisten, die wir in einer Bar in Exarchia treffen, gar nichts. Die bärtigen jungen Männer mit langen Haaren sind in erster Linie sauer. Auf die Molotowcocktailwerfer, weil diese das Wort Anarchie mit Gewalt verwechselten. Auf den Staat, «weil wir fünf Jahre studieren und dann keine Perspektive haben, nichts», wie George sagt. Michalis, ein Anwalt, sagt: «Und jetzt verbreitet sich überall die Angst, dass der Staat wie Argentinien einfach pleitegeht.» Keiner der politisch engagierten jungen Männer beteiligt sich an den Protesten. Für den übersättigten Staat sei jetzt die Stunde der Wahrheit gekommen. Die Regierung habe keine andere Wahl, als den öffentlichen Sektor zu beschneiden. «Uns, die wir nicht vom Staat leben, ging es noch nie besonders gut», sagt Andreas, ein Grafiker. «Mein Chef bezeichnet mich als Allrounder, damit er mir statt 1000 Euro bloss 700 bezahlen muss. Wehre ich mich, fliege ich raus. Keiner hat auf mich gewartet.»

Raus aus der heissen Stadt ans Meer – und dann wieder zurück: eine Wanderung im urbanen Raum von Pyräus Richtung Stadtzentrum Athens: Im Hafen Zea Marina betäubt die Gelassenheit der reichen AthenerInnen, die Musik schwerer Maschinen und die grell glänzenden Jachten, die gemütlich in der Bucht schaukeln. Hier ist die Krise nicht angekommen, während sie in den weiter stadteinwärts gelegenen Matratzensiedlungen der mittellosen Illegalen unter den Eisenbahnbrücken schon lange vor den Unruhen immer gegenwärtig war. In der Zea Marina wird flaniert statt demonstriert. Die sozialen Brände schwelen anderswo. Stattdessen provozieren hier Silikonbrüste.

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