Gentrifizierung in Athen: «Kommt nicht nach Exarchia!»
Mitten in einem linken Athener Viertel entsteht derzeit eine neue Metrostation. Die Baustelle ist ein Symbol der Verdrängung, und eine Machtdemonstration der Regierung. Doch die Bewohner:innen geben sich kämpferisch.
In Exarchia herrscht heitere Stimmung. Bunte Lichter und Cocktailbars säumen nachts die Kolettistrasse, als es plötzlich laut wird. Beim ersten Knall beginnt die Kellnerin einzukassieren, eigenartig gefasst – als müssten sich die Gäste keine Sorgen machen. Mit dem zweiten Knall stehen einige von ihnen auf. Als der bedrohliche Lärm nicht aufhört und schwarz gekleidete Vermummte die Partymeile hinunterrennen, macht sich Panik breit; innerhalb von Sekunden fliehen die Leute vom Strassenrand ins Innere der Bars oder rennen gleich ganz davon. Die Lokale lassen die Rollläden runter, denn am oberen Strassenende marschiert die Bereitschaftspolizei auf: Die Beamt:innen tragen Schilde und Gasmasken und sind am ganzen Körper gepanzert.
24 Stunden Polizei
Es ist der 18. Mai, um ein Uhr nachts haben Anarchist:innen Blendgranaten auf die Polizist:innen geworfen, die eine grosse Baustelle bewachen. Hier entsteht eine Metrostation, die die Plateia Exarcheion dereinst mit der Linie 4 erschliessen soll. Der Platz ist das Zentrum Exarchias, und er ist eine der wenigen Grünflächen im Viertel mit grosser historischer Symbolkraft: Von hier aus begannen während des Zweiten Weltkriegs Student:innen mit dem Widerstand gegen die faschistische Besetzung. Seit den Siebzigern ist es ein Zentrum der Linken, der Anarchist:innen, von Intellektuellen und Künstler:innen.
Weil Stadtverwaltung und Regierung fürchten, dass Anarchist:innen ihr Bauprojekt sabotieren könnten, stationieren sie 24 Stunden am Tag mehrere Dutzend Bereitschaftspolizist:innen um die Metrobaustelle herum. An den Hauptstrassen, die Exarchia umgrenzen, stehen jederzeit Polizeibusse und Gefangenentransporter bereit.
Barkeeper Alex überrascht die nächtliche Panik nicht. «In der Bar haben wir immer Medikamente gegen die Auswirkungen von Tränengas», erzählt er. «Sie versuchen, die Anarchisten aus Exarchia zu vertreiben.» Vor einem Monat habe die Polizei zwei Tränengasgranaten auf die Strasse geworfen, erzählt er und zeigt vor die Tür. Alex trägt schwarze Kleidung; dicke, silberne Ringe schmücken seine Finger. Die Kleidung kontrastiert mit seinen weichen Gesichtszügen. «Ich bin nur ein Barkeeper, ein Typ halt», will er sich vorgestellt wissen, natürlich ohne Nachnamen.
Es brauche keine Metrostation für Exarchia, sagt er, denn wenige Gehminuten entfernt gebe es bereits Stationen. Das Bauprojekt diene vielmehr als Vorwand, um das Viertel endgültig zu gentrifizieren, ist Alex überzeugt. Der Prozess ist schon weit fortgeschritten: Gemäss Zahlen aus der Immobilienbranche haben sich die Mietpreise in der Gegend in den vergangenen sieben Jahren teilweise verdreifacht, auch wegen der touristischen Nutzung vieler Wohnungen im zentral gelegenen Viertel.
Alex aber sieht die Sache gelassen. «Wir haben eine parasitäre Beziehung zu den Touristen», sagt er, «sie nutzen uns aus, und wir nutzen sie aus.» Gleichzeitig sei Exarchia immer noch so etwas wie das Herz des Athener Untergrunds: «Konzerte, Events, eine grosse Antiestablishment-Geschichte, das ist Exarchia.» Nun werde das Viertel kriminalisiert, um Vorwände für Polizeieinsätze zu schaffen, glaubt Alex.
Direkt an der Plateia Exarcheion steht ein besetztes Haus: «K*Vox». Eine der wichtigsten beteiligten politischen Gruppen heisst Rouvikonas. Das Kollektiv wurde 2013 gegründet, und es besetzt seither Häuser, organisiert kostenloses Essen – und wirft zuweilen Farbbomben auf die Airbnb-Häuser, die sich in Exarchia seit langer Zeit breitmachen. Schon lange wettern deshalb Mitglieder der liberalkonservativen griechischen Regierungspartei Nea Dimokratia gegen Rouvikonas: Die Anarchist:innen verbreiteten Chaos im Land, hat Kyrgiakos Mitsotakis schon vor sechs Jahren behauptet. Vor seiner Wahl zum Ministerpräsidenten 2019 hat er versprochen, Exarchia zu «befrieden». Mittlerweile hat seine Regierung Rouvikonas als «Gang» klassifiziert.
Das mumifizierte Quartier
Der Anarchist Nikos, Anfang vierzig und seit Jahrzehnten politisch aktiv, ist frustriert. Er ist Mitglied des «No Metro»-Bündnisses, einer Versammlung aus der Nachbarschaft, die sich wöchentlich im «K*Vox» trifft, um gemeinsam gegen die Zerstörung des Exarchia-Platzes vorzugehen. Wenn es um Tourist:innen geht, wird Nikos wütend. «Ich beisse», scherzt er, schaut dabei aber sehr ernst. In seinen Augen wird Exarchia «kolonisiert»: Investoren und Tourist:innen verdrängten die Bevölkerung.
Ein erster Schritt sei es gewesen, die überwiegend von Geflüchteten organisierten Besetzungen zu räumen, von denen es 2017 in Exarchia mehr als zwanzig gab. Schritt für Schritt würde das Viertel seither seines Charakters beraubt; heute existiert bloss noch eine einzige Hausbesetzung von Geflüchteten. «Du nimmst Lebendiges und mumifizierst es», umschreibt Nikos den Prozess.
Seine Botschaft an Reisende aus dem Ausland lautet: «Kommt nicht nach Exarchia, ausser ihr beteiligt euch an den Kämpfen!» Ohne handfeste Solidarität würden auch linke Besucher:innen die Verdrängung im Quartier bloss vorantreiben.
Wenn er an Polizist:innen vorbeigehe, legten diese ihre Hände an die Dienstwaffe, erzählt Nikos. So wollten sie ihm zeigen, dass sie ihn kennten. «Das ist mein Alltag», sagt er. Seine Haare und der Dreitagebart sind ergraut. «Wenn ich nicht so müde wäre, könnte ich ein ganzes Buch schreiben, in dem nur die Übergriffe der Polizei dokumentiert sind», sagt Nikos. Mehrere Frauen bestätigen seine Darstellung gegenüber der WOZ: Sie berichten von Catcalling und sexistischer Anmache durch die Polizisten im Viertel.
Steine und Blech versperren die Sicht auf die Plateia Exarcheion, hinter der Absperrung sind Bauarbeiter:innen am Werk. Mit Graffiti und Bannern versuchen die Quartierbewohner:innen, sich die kalte Blechwand anzueignen. Mit ihrer farblosen Funktionalität widerspricht sie schliesslich den bunten Fassaden Exarchias, auf denen in Schriftzügen Kapitalismus und Polizeigewalt verurteilt werden, Stencils an verlorene Mitstreiter:innen erinnern und Wandmalereien auf die Möglichkeit einer anarchistischen Gesellschaft pochen.
Versiegelte Stadt
Zwischen all den politischen Plakaten und Malereien hängt mancherorts noch etwas anderes: wissenschaftliche Gutachten, auf Papier ausgedruckt, in denen der Bau der Metrostation problematisiert wird. Chryssoula Papageorgiou, eine Quartierbewohnerin, hat diese Berichte zum Mittel ihres Widerstands gemacht. Die alleinerziehende Mutter hat zwei Jobs, um sich die Miete und das Leben in Exarchia leisten zu können: einen als Lehrerin und einen in einem Büro. Wegen ihres Engagements gegen den Bau der Metro nahm die Polizei sie letzte Woche, wie schon einmal im vergangenen Jahr, mit auf die Wache. Die Begründung diesmal: Papageorgiou habe den Bauarbeiter:innen auf der Plateia Exarcheion Angst eingejagt.
Obwohl Papageorgiou das Viertel, in dem sie schon ihre Jugend verbracht hat, heute kaum mehr wiedererkennt, gibt sie ihre Nachbarschaft nicht auf. Zusammen mit «No Metro» geht sie gerichtlich gegen das Unternehmen Elliniko Metro vor, das die Station baut. Ihr Vorwurf: Die Firma halte sich weder an Sicherheits- noch an Umweltauflagen.
Allein auf der Plateia Exarcheion hat Elliniko Metro bislang 72 Bäume gefällt, nur 29 sind noch übrig. Das Problem beschränkt sich aber nicht auf diese eine Baustelle: In ganz Athen, dieser heissen und weitgehend mit Beton und Asphalt versiegelten Stadt, sollen es über 2400 Bäume sein, die der Metrolinie 4 weichen müssen. Deren Bau wurde unter anderem mit umweltpolitischen Argumenten begründet, weil sie den Autoverkehr zu drosseln helfe. «Wie kann etwas, das so viele Bäume zerstört, gut für die Umwelt sein?», fragt Papageorgiou.
Aufgrund der Bauarbeiten bestehe zudem die Gefahr von Erschütterungen und dem Einsturz darüberliegender Gebäude, sagt die vielbeschäftigte Aktivistin. Auf der Plateia Exarcheion gebe es rund um die Baustelle im Notfall keine Zugangswege für Rettungsdienste oder Feuerwehr – der Bauzaun steht zu eng an den Gebäuden. Haris Doukas, seit Beginn dieses Jahres Athens sozialdemokratischer Bürgermeister, hat Elliniko Metro diesbezüglich um Auskunft gebeten. Antwort hat er keine erhalten.
Wer nach Treibern der Gentrifizierung sucht, könnte einen solchen zum Beispiel in Gerhard Sommer erkennen: einem 62-jährigen, zurückhaltenden Österreicher. «Ich werde hier nicht meine Lebensgeschichte erzählen», sagt er beim Treffen vor einem Restaurant. Seine Stirn ist verschwitzt, er kommt gerade von einer seiner Airbnb-Wohnungen, die er für den nächsten Besuch vorbereitet hat. Nach einigem Nachfragen erzählt Sommer doch noch ein bisschen aus seinem Leben: Der Sport sei es gewesen, der ihn Ende der neunziger Jahre nach Griechenland gebracht habe. Er habe anfänglich in einem Wintersportort als Skilehrer gearbeitet, dann sei er hiergeblieben.
Auch er finde, dass die Metrostation nicht nötig sei, sagt Sommer; mehr Busse hätten in seinen Augen genügt. «Tourismus und Airbnbs, beides zerstört Exarchia – blöderweise lebe ich aber davon», sagt er. In zehn Wohnungen biete er in Athen etwa fünfzig Zimmer an. Seit sieben Jahren auch in Exarchia. «Ich verstehe die Anarchisten, ich verstehe auch das Airbnb-Problem», sagt Sommer. «Aber wenn ich ein Haus habe, und ich kriege die Anarchisten nicht aus ihm raus, dann sehe ichs anders», erklärt er. Die wiederkehrenden gewalttätigen Zwischenfälle seien letztlich Rückzugsgefechte, findet Sommer. «Da gibts den Aufstand, dann lassen sie die Leute schreien, und der Rest geht der Arbeit nach. So entsteht das alles, so entsteht auch die Metro.»
Linke auf dem Rückzug?
Diese Unaufhaltsamkeit, mit der die Entwicklung in Exarchia offenbar voranschreitet, hat laut Costas Zachariadis einen einfachen Grund. Er empfängt in einem rot gestrichenen Gebäude etwas ausserhalb von Exarchia, gut einen Kilometer von der Plateia Exarcheion entfernt: Es ist das Hauptquartier von Syriza, Griechenlands Koalition der radikalen Linken. Von hier aus hat Zachariadis letztes Jahr seinen Wahlkampf zur Bürgermeisterwahl bestritten. Nachdem er im ersten Wahlgang etwas über dreizehn Prozent der Stimmen gemacht hatte, unterstützte er im zweiten den späteren Gewinner Doukas.
Nun wettert er über Griechenlands Regierungspartei, unter deren Federführung das Bauprojekt an der Plateia Exarcheion in die Wege geleitet worden sei. Er wirft Nea Dimokratia vor, die Metrostation als Vorwand für politische Ziele zu nutzen: «Es liegt auf der Hand, dass es andere und potenziell sogar bessere Alternativen für den Standort gab», sagt der Oppositionspolitiker. Zum Beispiel gleich vor dem Archäologischen Museum, am Rand des Viertels. «Nea Dimokratia scheint sich jedoch zwanghaft auf die Bebauung der Plateia Exarcheion festgelegt zu haben», so Zachariadis. Er ist überzeugt: Mit dem Projekt im Zentrum des Stadtviertels ziele die Partei von Ministerpräsident Mitsotakis mitten ins Herz der Linken Griechenlands.
Die Anarchist:innen von Exarchia aber wollen nicht aufgeben. Zum Beispiel Nikos mit den ergrauten Haaren: «In unserem Kampf um soziale Befreiung ist die Plateia Exarcheion eine Festung, die wir niemals aufgeben sollten», bekräftigt er. Er wirkt müde – aber noch immer wütend genug, um zu kämpfen.