Kino-Film «Flee»: Der Zwang zum Lügen

Nr. 28 –

Was Heimat für ihn bedeute, will Regisseur Jonas Poher Rasmussen zu Beginn von seinem Protagonisten wissen. Die Antwort kommt zögerlich: «Der Ort, an dem ich mich sicher fühle und von dem ich nicht mehr fortgehen muss.» Es klingt wie die Essenz einer Fluchtgeschichte. Mit «Flee», seinem knapp neunzig Minuten dauernden Mix aus Animations- und Dokumentarfilm aber, führt Rasmussen vor Augen, wie sehr das ein Klischee ist. Denn flüchten zu müssen bedeutet mehr als nur einen Übergang von Gefahr zu Sicherheit, von Weggehen zu Ankommen. Die Lebensgeschichte seines ehemaligen Klassenkameraden, den er Amir nennt, ist dafür ein eindrücklicher Beleg.

Die Animationstechnik setzt Rasmussen nicht nur als stilistische Möglichkeit ein, Amirs Erinnerungen detailreich nachzustellen – samt Chuck-Norris-Plakaten im Jungszimmer und Telenovelas im Fernseher –, sie ist zugleich ein Mittel der Anonymisierung. Auch übliche Dokfilmsituationen wie Interview und Hausbesuch sind hier nachgezeichnet. Denn in Amirs Geschichte geht es zentral auch um den Zwang zum Lügen und Verleugnen, den ein Flüchtender erlebt. Und darum, wie einsam ihn das macht. Amir hat immer noch Angst, seinen Status zu gefährden, wenn er die volle Wahrheit seiner Herkunftsgeschichte preisgibt.

«Flee» beginnt entsprechend wie eine therapeutische Sitzung: Amir soll auf der Couch liegend die Augen schliessen und an sein Aufwachsen in Kabul, Afghanistan, denken. Mit einem Walkman-Kopfhörer auf den Ohren tanzt ein kleiner Junge scheinbar unbeschwert durch die noch sehr dörflich wirkenden Gassen. Aber die Geheimnisse beginnen schon hier, noch bevor die Mudschaheddin Kabul erobern und Amirs Familie die Flucht ergreift. Der Vater wurde verschleppt, die Mutter bekam graue Haare und Amir zieht gerne die Kleider seiner Schwestern an. So verschieden die Wucht der Probleme ist, kann doch über keines davon wirklich offen geredet werden.

Dass er Geheimnisse wahren muss, wird Amirs Lebensmuster. «Flee» offenbart sie nun – diskret und berührend zugleich.

Flee. Regie: Jonas Poher Rasmussen. Dänemark, Frankreich, Schweden, Norwegen 2021