Flucht und Migration in der Kinder- und Jugendliteratur : «Die flüchtenden Menschen dürfen nicht nur in der Opferrolle dargestellt werden»

Nr.  46 –

Weniger Stereotypisierung, mehr subversive Strategien des Widerstands: Das wünscht sich die Literaturwissenschaftlerin und Pädagogin Hajnalka Nagy für die Kinder- und Jugendbücher, die die Themen Flucht und Migration behandeln.

Illustration aus «Die Flucht». Von Francesca Sanna. Deutsche Ausgabe © 2016 NordSüd Verlag AG, Zürich/Schweiz

WOZ: Frau Nagy, die Themen Migration und Flucht sind schon seit längerer Zeit in den Jugend- und Kinderbüchern angekommen, doch momentan scheint es einen richtigen Hype zu geben: Diesen Herbst erscheinen allein im deutschsprachigen Raum rund hundert Bücher zu diesen Themen. Warum so viele?
Hajnalka Nagy: Natürlich ist dieser Hype bedingt durch die gesellschaftliche und politische Situation. In den letzten Jahren hat die Zahl der flüchtenden Menschen nach Westeuropa drastisch zugenommen, darauf reagiert die hiesige Literatur – und auch der Literaturbetrieb. Da darf man nicht blauäugig glauben, dass der Literaturmarkt kein ökonomisches Interesse hat. Doch leider findet man kaum einzigartige Bücher zu dem Thema. Es gibt ein sehr gleichförmiges Schema, dem die meisten Bücher folgen.

Welches?
Die Bücher sind wie Etappenromane mit drei Stationen konzipiert. Am Anfang steht der Heimatort, der bedroht wird und verlassen werden muss. Als zweite Station kommt die Flucht. Hier müssen die Protagonistinnen und Protagonisten verschiedene Posten durchlaufen, die mehr oder weniger bedrohlich sind und stets mit Verlust-, Schmerz- und Gewalterfahrungen verbunden sind. Es gibt viele realistische Fluchtgeschichten, die die harte Realität, wie sie die flüchtenden Menschen während ihrer Reise erleben, unbeschönigt und ziemlich detailreich schildern.

Und dann folgt das Ankommen am Zielort als dritte Station?
Genau, wobei dies eigentlich nie ein richtiges Ankommen sein kann, denn die Geflüchteten kommen in Flüchtlingslagern oder Auffanglagern unter, wo sie über Jahre in Provisorien und in Unsicherheit leben, wo sie mit fremdenfeindlichen Ansichten konfrontiert werden und mit der unmenschlichen Maschinerie der Bürokratie. Hinzu kommt die Sprache des Aufnahmelands, die sie nicht verstehen und zuerst erlernen müssen. Ungefähr so ist das Schema.

Und was kritisieren Sie nun an diesem Schema?
Die meisten Bücher wollen durch die Schilderung dieser Schicksale Betroffenheit hervorrufen. Aber gerade deutschsprachige Autorinnen und Autoren, die die Flucht selber nicht erlebt haben, könnten sich mehr auf die politischen Verhältnisse im Aufnahmeland konzentrieren und diese genauer beleuchten. Es gäbe ganz viele Fragen, denen in den Büchern nachgegangen werden könnte.

Welche denn?
Unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen geschieht die Ankunft? Welches sind in der Öffentlichkeit die Diskurse über Flucht und Migration? Anhand welcher Kategorien wird über Identität oder über Nation diskutiert? Inwieweit beeinflussen diese Kategorien, die in uns sehr stark präsent sind und unsere Sicht auf die ankommenden Menschen prägen, die Politik? Und inwieweit prägen diese Kategorien auch die Literatur, die teilweise von deutschen Autorinnen und Autoren geschrieben wird? Ich wünsche mir, dass diese das Konstrukt der traditionellen Kategorie von Nation oder der Idee einer homogenen Kultur mehr hinterfragen.

Können Sie das genauer ausführen?
Es wird – nicht nur, aber leider auch in der Kinder- und Jugendliteratur – immer so getan, als würden die Menschen, die nach Westeuropa kommen, in homogene Gesellschaften einreisen. Das ist ja nicht der Fall. Diese Gesellschaften sind heterogen, transkulturell, mehrsprachig. Hier tappt die Literatur in die Falle der Politik, die immer wieder den Versuch der Homogenisierung und der Renationalisierung macht. Und im Grunde tut die grosse Erzählung von «Europa» auch nichts anderes als das Konstruieren von Identität unter Ausschluss des «Fremden» und der «anderen». Doch ein reines Europäertum gibt es genauso wenig wie reine Nationen. Eine kritische Auseinandersetzung oder schon nur eine kritische Haltung dazu fehlt mir in den meisten Büchern genauso wie die Frage, wie man kulturelle Differenzen und die Irritation des vermeintlich Fremden aushält oder damit umgeht.

Wie könnte die Literatur denn konkret aussehen?
Die Literatur könnte subversive Strategien des Widerstands aufzeigen: Wo sind die Handlungsmöglichkeiten von flüchtenden Menschen selbst? Warum sind diese Handlungsmöglichkeiten so eingeengt? Und wo sind die Handlungsmöglichkeiten der Leserinnen und Leser? Diese sollten nicht einfach das gelesene Buch zur Seite legen und finden: «Ach, das ist ja alles so schrecklich und traurig» – und das war es dann. Denn Literatur soll Menschen wachrütteln. Oder um es mit Ingeborg Bachmann zu sagen: «Wir schlafen ja, sind Schläfer, aus Furcht, uns und unsere Welt wahrnehmen zu müssen.» Literatur soll irritieren. Und diese Irritationspunkte finde ich leider sehr selten.

Europa wird in den Büchern als homogene Kultur präsentiert, aber auch die flüchtenden Menschen werden häufig stereotyp dargestellt.
Die Probleme in den migrierten Familien werden in der Tat oft kulturalisiert. Sie werden als migrantische Probleme gezeigt. Die Autoren unterschlagen es häufig, diese in einen komplexen sozialen Kontext einzubauen.

Sind solche Kinderbücher überhaupt fördernd, um die Geschichte von flüchtenden Menschen zu verstehen?
Natürlich besteht die Gefahr, dass sie stereotype Bilder vermitteln und Klischees zementieren. Das Schwierige ist allerdings, dass diese Stereotype sehr unterschwellig und subtil vermittelt werden.

Können Sie die Problematik an ein, zwei Beispielen von neueren Büchern erläutern?
Im sehr schön gezeichneten, 2016 erschienenen Bilderbuch «Am Tag, als Saída zu uns kam» geht es um die Geschichte der Sprachfindung des Mädchens Saída aus Marokko. Auf dem Weg zur neuen Sprache wird sie von der Ich-Erzählerin, einem einheimischen Mädchen, begleitet. Beim gemeinsamen Sprachenlernen lernen sie auch den Respekt vor der Andersartigkeit und Verschiedenheit der Sprachen kennen. Die aktive Rolle dabei übernimmt jedoch das einheimische Mädchen, das sich auf die Suche nach Saídas Wörtern begibt, um ihr Schweigen zu brechen. Saída bleibt lange ein stummes Opfer, das seine Sprachlosigkeit und Trauer allein nicht überwinden kann. Das ist ein Muster, das vor allem für die Bücher der achtziger und neunziger Jahre typisch war.

Wie haben sich dieses Muster und die Stereotypisierung in den letzten Jahren verändert?
In den siebziger Jahren wurde die Migration in den Kinderbüchern im deutschsprachigen Raum vermehrt ein Thema – durch die Ankunft der sogenannten Gastarbeiter. Von den siebziger bis in die neunziger Jahre waren die Kinder mit Migrationshintergrund in diesen Büchern stereotyp und klischeehaft gezeichnet. Ausserdem wurden die Bücher zu Beginn ausschliesslich von deutschen Autoren geschrieben. Erst Mitte der achtziger Jahre begannen Autorinnen und Autoren mit Migrationshintergrund, Kinder- und Jugendbücher zu schreiben, zum Beispiel Rafik Schami, Yüksel Pazarkaya oder später Ghazi Abdel-Qadir und Alev Tekinay. Diese haben natürlich einen ganz anderen Zugang zum Thema, zeichnen die Figuren nicht so klischiert und schreiben nicht immer über Identitätskrisen und Orientierungsversuche, sondern präsentieren auch Modelle des gelungenen Zusammenlebens.

Und wie hat es sich seit den achtziger Jahren weiterentwickelt?
Bereits ab Mitte der neunziger Jahre zeichnet sich eine Änderung in der Literatur von Autorinnen und Autoren mit Migrationshintergrund ab. In Zoran Drvenkars «Niemand so stark wie wir» und «Im Regen stehen», aber auch in Nasrin Sieges «Shirin» ist das Transkulturelle ein natürlicher Bestandteil der Identität, und die Figuren wie auch ihre Lebenssituation sind komplex gezeichnet. In Drvenkars Büchern wird die Migration nicht als problemverursachend beschrieben. Hier ist es ganz natürlich, dass die Jungs mehrere Sprachen sprechen, mehrkulturell sind – aber im Mittelpunkt steht ihr Aufwachsen in Deutschland. Auch mit dem Multikultiidyll wird gebrochen, ein gutes Beispiel ist «Arabboy» von Güner Balci, in dem es um die Entstehung von Parallelgesellschaften und um eine misslungene Integration geht.

Hat diese neue Art, Geschichten zu erzählen, auch damit zu tun, dass diese nun von Migrantinnen und Migranten der zweiten und dritten Generation erzählt werden?
Es gibt in der Literatur von Autoren und Autorinnen mit Migrationshintergrund ganz klar einen Unterschied zwischen dem Geschichtenerzählen der ersten und jenem der zweiten und dritten Generation. Weil Letztere ein anderes Verhältnis zum Herkunftsland der Eltern, aber auch einen anderen Blick auf das Ankunftsland ihrer Eltern, das ihr Geburtsland ist, haben. Und diese mehrfachen Bindungen, dieses An-mehreren-Orten-heimisch-Sein, können sie natürlich besser repräsentieren.

Was soll ein gelungener Jugendroman über Flucht und Migration heute beinhalten?
Die flüchtenden Menschen dürfen nicht nur in der Opferrolle dargestellt werden. Denn diese Figuren sind selber fähig, politische, soziale und kulturelle Verhältnisse in ihrem Land und im Aufnahmeland zu reflektieren und Machtgefälle kritisch zu hinterfragen. Ein sehr gelungenes Buch für mich ist «Yoruba-Mädchen, tanzend …» von der nigerianischen Schriftstellerin Simi Bedford. Es ist im deutschsprachigen Raum nicht sehr bekannt und schon bald zwanzig Jahre alt. Die Autorin erzählt von einem Mädchen aus gutem Haus in Lagos, das in ein Internat nach London geschickt wird. Dort bekommt es verschiedene Zuschreibungen wie «die Wilde», «die Negerin» – doch sie inszeniert sich selber geschickt und wendet sich systematisch gegen diese Zuschreibungen und Stereotypisierung.

Hajnalka Nagy

Und haben Sie auch ein neueres Beispiel?
Im unlängst erschienenen «Als mein Vater ein Busch wurde» von der niederländischen Autorin Joke van Leeuwen entwickelt sich das geflüchtete Mädchen Toda zu einer mehrsprachigen Akteurin, die ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt und nicht länger in ihrer Opferrolle verbleibt. Dabei zeichnet sie sehr sensibel die Hierarchie der Sprachen nach: Obwohl sie alle Wörter und Höflichkeitsformeln erlernt, bemühen sich die Einheimischen nicht einmal, ihren vollständigen Namen auszusprechen. Durch verschiedene sprachliche Strategien gelingt es ihr aber, die Sprache als Machtmittel zu entlarven und durch die neue Sprache sich selbst zu ermächtigen.

Francesca Sanna: Die Flucht. NordSüd Verlag. Zürich 2016. 48 Seiten. 24 Franken. Ab 4 Jahren

Mehrnousch Zaeri-Esfahani: 33 Bogen und ein Teehaus. Peter Hammer Verlag. Wuppertal 2016. 148 Seiten. 27 Franken. Ab 12 Jahren

Daniel Höra: Das Schicksal der Sterne. Ars Edition. München 2015. 256 Seiten. 22 Franken. Ab 14 Jahren

Reinhard Kleist: Der Traum von Olympia. Die Geschichte von Samia Yusuf Omar. Graphic Novel. Ab 14 Jahren. Carlsen Verlag. Hamburg 2015. 152 Seiten. 25 Franken