Wichtig zu wissen: Auf einer unscharfen Reise

Nr. 28 –

Ruedi Widmer über Berge, die sich erheben, und Bilder, die sich ergeben

Ich habe jetzt eine Brille, weil ich auf eine gewisse Entfernung nicht mehr erkannte, wer mir entgegenkam. In der Migros musste ich mit verkniffenem Gesicht ganz nahe ans Gestell treten, um etwas lesen zu können. Nun trage ich eine Gleitsichtbrille.

Sie ist ein gewöhnungsbedürftiges Utensil, ermöglicht mir aber eine neue Weit- und Weltsicht. Plötzlich sah ich aus dem Zugfenster die Gleitschirmflieger am Himmel wieder, die vom Kronberg heruntersegeln, denn ich war am Wochenende mit Familie und Freunden auf einer Wandertour im Alpstein. Dabei setzte ich während der Wanderung die Brille aber wieder ab, denn das Blickfeld ist an den Rändern unscharf, und das ist besonders bei Rändern auf Berggraten nicht von Vorteil.

Steigt man nämlich nach dem Seealpsee linker Hand steil auf, geht es auf der rechten Wegseite fast bolzengerade in die Tiefe, und man hält sich gerade als nicht ganz schwindelfreier Mensch gerne mit der Hand am Draht auf der Bergseite. Nach einem einstündigen Fussmarsch erscheint die Meglisalp, umgeben von steilen Felsen, einer Fata Morgana gleich. Mit ihrem Steinkirchlein wirkt sie wie ein mit Kinderspielklötzen hingebautes Dörfli.

Übernachtet haben wir im empfehlenswerten Gasthaus Meglisalp. Im Esssaal stand ein Büchergestell, an dem ich kurz innehielt, denn es erstaunte mich, dass inmitten alpiner und heimatlicher Bände ein Buch über die libanesische Hauptstadt Beirut eingereiht war. Dessen Vorhandensein war allerdings schnell auf die nicht wieder aufgesetzte Brille zurückzuführen, denn es hiess bei näherer Betrachtung gar nicht Beirut, sondern Betruf.

An sich ist unscharf sehen ja nicht nur schlecht, denn es lässt viele unnötige Informationen im Blickfeld aus, fasst Dinge optisch zusammen. Die Impressionisten hatten diesen Effekt einst mühsam malen müssen, indem sie die Welt in Farbflecken einteilten und vereinfachten. Viele von ihnen konnten sich wohl kaum eine Brille leisten, denn ihre Bilder haben erst später Industriellen viel Geld gebracht. Es ist also gut möglich, dass sie ihre Motive wirklich nicht scharf sahen, wenn sie sagten, sie malten, was sie sehen, und nicht, wie man es sehen muss.

Mein Kollege Tom Combo, Musiker und Autor, sprach mich kürzlich auf ein Computerprogramm an, das seiner Meinung (inzwischen auch meiner) nach die Welt wie Google verändern werde. Es ist ein Programm, zu dem man sich zurzeit erst online einen Zugang auf die Betaversion verschaffen kann. Sein Name ist Midjourney, und was es macht, verschlägt einem den Atem. Es ist eine künstliche Intelligenz, die Illustrationen erschafft. Tippt man verbal ein: «Village of children’s wooden blocks in the middle of a steep rocky mountain landscape, clouds, slightly hazy, backlight, photorealism», dann erhält man zwei Minuten später das gewünschte Bild. Denn Midjourney ist kein Zeichen- und auch kein 3-D-Programm, sondern es greift auf die Billionen von Bilddaten im Internet zu und generiert daraus ein perfektes Bild, das so erstaunlich gut wie hochgradig beängstigend ist. Ich hätte statt «photorealism» auch «in style of Claude Monet» eingeben können, und dann wäre das Dorf als Monet-Bild gekommen. Ich könnte Wilhelm-Busch-Bilder machen oder Ruedi-Widmer-Bilder. Es ist komplett irre. Einen Widmer-Cartoon von Midjourney würde man aber immer noch von einem echten unterscheiden können, denn es gibt online vermutlich zu wenige meiner Zeichnungen, als dass Midjourney genügend über meinen Stil gelernt hat. Inhaltliche Ideen hat es noch nicht, aber mir scheint in den nächsten fünf Jahren alles möglich. Es soll bereits künstliche Intelligenzen geben, die im Stil von Beethoven komponieren. Meinen Beruf gefährdet Midjourney noch nicht. Würde ich aber digitale Science-Fiction-Bilder malen, dann müsste ich um mein Einkommen bangen.

Ruedi Widmer ist Cartoonist mit Durchblick in Winterthur.

www.meglisalp.ch www.midjourney.com