Ruedi Widmer: Einen Ausweg gibt es immer

Nr. 3 –

Der Cartoonist Ruedi Widmer zeigt in Winterthur seine erste Einzelausstellung. Zu sehen sind auch zahlreiche Zeichnungen, die in dieser Zeitung erschienen sind. WOZ-Redaktor Kaspar Surber hielt die Eröffnungsrede.

Illustration: Ruedi Widmer

Als mich Ruedi Widmer angerufen und gefragt hat, ob ich einige einleitende Worte zu seiner Ausstellung sagen würde, hat mich das gefreut, und ich habe sofort zugesagt. Kaum hatte ich das Telefon aufgelegt, merkte ich allerdings, dass ich einen grossen Fehler begangen hatte: Wenn man etwas nicht erklären kann, dann sind es Witze. Denn sobald sie erklärt sind, verlieren sie ihren Charakter: Sie sind nicht mehr lustig. Erst recht peinlich werden könnte es, lustiger als der Cartoonist selbst sein zu wollen.

Ich habe deshalb beschlossen, eine ernsthafte Ansprache zu halten. Dies entspricht auch unserer Arbeitsteilung auf der WOZ: Ich und andere verdienen dort ihr Geld mit Recherchen und Kommentaren, Ruedi Widmer mit Witzen, wie er seine Zeichnungen selbst nennt.

Der heutige Kommentar trägt den Titel «Auf der Seite der Leserinnen und Leser. Über den demokratischen Geist in Ruedi Widmers Zeichnungen».

Widmer verwirrt

Ruedi Widmer habe ich vor zehn oder mehr Jahren kennengelernt. Im Veranstaltungskalender des St. Galler Kulturmagazins «Saiten» stolperte ich über eine seltsame Anzeige: «Unverändert lustig. Binotto, Keller und Widmer lesen aus Regionalzeitungen und Postwurfsendungen». Veranstaltungsort war das Kulturlokal Kraftfeld in Winterthur. Ich fuhr hin.

Das Kraftfeld war bis auf den letzten Platz gefüllt, es schien eine kulturelle Aufbruchstimmung zu herrschen – jene gute Stimmung vermutlich, die die Winterthurer Behörden derzeit gerade mit Gummischrot zu vertreiben versuchen.

Ganz weit vorne im Kraftfeld, wegen der vielen Gäste waren sie kaum zu sehen, lasen Johannes Binotto, Florian Keller und Ruedi Widmer aus Regionalzeitungen und Werbeprospekten vor. Höhepunkt des Programms waren Berichte über die Ausflüge eines Altersheims.

Ich erwähne diese Episode aus den Anfangstagen nur deswegen, weil sie klarmacht, wo Widmer mit seiner Kunst bis heute aktiv ist: mitten in den Medien, mitten in der Werbung, im Briefkasten, in der Mailbox und auf Facebook. Mitten im Müll, der täglich auf uns einprasselt.

Er macht keine Cartoons über Politik und Gesellschaft. Seine Cartoons handeln davon, wie die Politik und die Gesellschaft in den Medien dargestellt werden. Das ist natürlich noch politischer. Er sagt selbst: «Verhandelt wird die Wahrnehmung.» Er arbeite ins mediale Grundrauschen hinein.

Die Welt gilt heute als zunehmend komplex, und so wird von den Journalistinnen und Journalisten gefordert, dass sie die sogenannte Relevanz der Ereignisse erkennen und sie einordnen können. Ruedi Widmer macht genau das Gegenteil: Er verwirrt, absichtlich und lustvoll. Beispielsweise, wenn in einem Cartoon die Grossbank UBS mit ihrem eigenen Scheitern wirbt: «Investieren Sie in attraktive Finanzprodukte: UBS-Bussen». Ein Ehepaar geht am Plakat vorbei, und sie sagt zu ihm: «Siehst du, Kurt, die Banken boomen wieder.»

Widmer ist gewissermassen der erste Leser, der allen anderen zuruft: Aufgepasst, es ist alles nur dargestellt und produziert!

Er arbeitet dafür so schnell, wie die Medien ticken. Pro Tag erstellt er zwei Zeichnungen, für die Wochenzeitung WOZ, den «Tages-Anzeiger» oder das Konsumentenmagazin «Saldo». Sie sind nun erstmals in einer Einzelausstellung zu sehen. So krakeelend-lieblich die Zeichnungen wirken: Widmer hat keine Zeit für falsche Romantik, er zeichnet alles digital, mit einem elektronischen Stift. «Mein Arbeitsplatz», sagt er, «sieht aus wie der eines Bankers. Ausser, dass ich ein Riesenpuff habe.» Unweigerlich stellt sich die Frage, weshalb ihm bei diesem Tempo die Ideen nie ausgehen. Die Antwort ist tatsächlich ein Geheimnis: Es ist die Serie «Die letzten Geheimnisse einer rationalen Welt», die seit dem Jahr 2000 wöchentlich im Winterthurer «Landboten» erscheint, versteckt im Veranstaltungskalender.

Sie sind das Experimentierfeld, auf dem er immer wieder neue Umkehrungen und Übersteigerungen ausprobiert: In Folge 666 beispielsweise wird das beständige Updaten von Programmen ad absurdum geführt, indem auch die Natur ein Update erhält: Der Regenbogen erscheint in einem verbesserten Farbverlauf, über tausend neue Tierarten werden eingeführt, darunter ein Pfeifmunz, und zwischen Donnerstag und Freitag gibt es einen neuen Tag, den Klamtag.

Antwort auf die Katastrophe

Dass so viele Leserinnen und Leser über seine Zeichnungen lachen müssen – nimmt man die Reichweite der Zeitungen inklusive der WOZ, sind es wöchentlich geschätzte 1 200 000  LeserInnen –, dass also so viele Menschen über einen Widmer-Cartoon lachen müssen, hat wohl mit seiner verständlichen Sprache zu tun, die ohne jeden Bildungsdünkel auskommt. «Die Sprache von Bedienungsanleitungen scheint mir nützlicher als die von griechischen Tragödien», sagt er.

Doch Widmer verwirrt nicht nur, damit man lacht. Sowieso landet er niemals im Zynismus. «Hart, aber farbig», der Titel dieser Ausstellung, trifft es genau: Er verwirrt, um aufzuklären.

Wer ihn persönlich kennt, der weiss: Er ist zu Recht in Sorge, dass die positiven Errungenschaften des Landes wie die SBB zerstört werden und nach dem Starbucks- bald auch ein Red-Bull- und dann ein SVP-Familienwagen durch die Schweiz fährt. Dass alles explodiert: die Atomkraftwerke, die Millionensaläre, die Fremdenfeindlichkeit.

In seinen Cartoons findet sich deshalb auch immer die Antwort auf die Katastrophe, die längst in unseren Alltag eingebrochen ist: Es ist der demokratische Geist, der durch die Zeichnungen weht.

«Wir Rappen sind enttäuscht»

In seinen Witzen können alle reden. Die Menschen, die Tiere, die Dinge versammeln sich zu einer Art von Singkreis: Kurt und Margreth, die Politiker, die Krokodile, die Polizisten, die Eiermänner, die Spargeln, manchmal auch in der Gruppe, dann als Spargelgruppe Hunkeler, die Geräte, Automaten und sogar die Münzen dürfen ihre Meinung äussern.

Meine liebste Zeichnung in der Ausstellung ist diejenige von den Rappen, die sich im Portemonnaie über den starken Franken beschweren: «Wir Rappen sind enttäuscht. Schliesslich wäre der starke Franken, dieser Angeber, nichts ohne uns», sagt der Zwanzigräppler. «Nie liest man in den Zeitungen von den starken Rappen», meint der Zehnräppler. «Wir schuften, und am Schluss holt nur der Oberste die Lorbeeren», sagt der Fünfräppler.

Wo alle zu Wort kommen, entsteht Demokratie. Wo alle zu Wort kommen, sind auch alle verantwortlich. Und wo alle zu Wort kommen, erscheinen die Verhältnisse als veränderbar.

Auch wenn die Welt und ihre Werbung spinnen: Einen Ausweg gibt es immer. Das ist Ruedi Widmers demokratische Botschaft. Oder wie in einem Cartoon zum Pferdefleischskandal das Pferd auf der Wiese ruft: «Hallo, alles legal hier, wir sind aus Rindfleisch.»

Ruedi Widmer: «Hart, aber farbig». Ausstellung 
im Bistro der Alten Kaserne Winterthur, 
8. bis 31. Januar 2014, Montag bis Freitag 8 bis 24 Uhr, Samstag 15 bis 24 Uhr.