Frontex: Amtlich bestätigte Verbrechen
Laut internationalen Medien belegt ein Bericht der EU-Antibetrugsbehörde krasse Rechtsverstösse von Frontex. Vertreter:innen von Schweizer Behörden haben schon vor der Abstimmung davon gewusst.
Jesus lebt. Die Erde ist eine Scheibe. «Frontex nimmt den Schutz der Grundrechte sehr ernst.» Letzteres sagte Marco Benz laut CH Media Mitte April an einer Podiumsdiskussion in Bern. Benz ist neben Medea Meier eines der zwei Schweizer Mitglieder im Verwaltungsrat von Frontex, einem der wenigen Kontrollorgane der EU-Grenzschutzagentur.
Die EU-Antibetrugsbehörde Olaf kommt zu einem anderen Schluss als Benz. Rund ein Jahr lang hat sie gegen Frontex ermittelt. Sie verhörte Mitarbeiter:innen, durchsuchte die Büroräumlichkeiten der Direktion, sichtete aufgezeichnetes Beweismaterial. Das Ergebnis dieser Untersuchung liegt seit Februar vor. Bislang wurde der 129-seitige Bericht allerdings unter Verschluss gehalten. Jetzt wurde er dem «Spiegel», «Lighthouse Reports» und «Le Monde» zugespielt.
Schweizer Geld für Pushbacks
Zwar haben die Medien den Report nicht veröffentlicht, aber der «Spiegel» zitiert ausführlich daraus. Das Resultat der Untersuchung ist demnach erschütternd. Olaf belege, so schreibt das Nachrichtenmagazin, systematische Rechtsbrüche der griechischen Küstenwache und von Frontex. Die Antibetrugsbehörde zeichne unter anderem nach, wie 2020 ein Frontex-Flugzeug einen griechischen Pushback von dreissig Geflüchteten gefilmt und live in die Zentrale nach Warschau gestreamt habe. Statt einer Intervention hätten die Verantwortlichen das Flugzeug vom Tatort wegbefohlen. Gemäss dem «Spiegel» beweist der Olaf-Bericht, dass das Flugzeug gezielt abgezogen worden sei, damit der Vorfall nicht ausführlich bezeugt wird.
Es ist nur ein Beispiel von vielen. Laut dem «Spiegel» belegt Olaf auch, dass Frontex, an dem auch die Schweiz beteiligt ist, illegale Einsätze von Schiffen der griechischen Küstenwache finanziert hat: dass also mutmasslich auch Schweizer Geld direkt in lebensgefährdende und illegale Einsätze investiert wurde. Frontex habe diese Information bei nachfolgenden Untersuchungen unterschlagen. Ausserdem habe das Team rund um Exdirektor Fabrice Leggeri in Whatsapp-Nachrichten eine Grundrechtsbeauftragte mit dem kambodschanischen Massenmörder Pol Pot verglichen und EU-Kommissionsvertreter:innen als dumm bezeichnet.
Der Untersuchungsbericht von Olaf bestätigt damit erstmals amtlich, was von unzähligen Medienrecherchen schon mehrmals beschrieben wurde: dass Frontex sich während der letzten Jahre nicht um Gesetze oder Grundrechte und erst recht nicht um Transparenz geschert hat. Und dass die Struktur der Organisation demnach so angelegt ist, dass so drastische Vergehen möglich sind – weil sie kaum demokratischer Kontrolle untersteht.
Als Verwaltungsrat Marco Benz im April beteuert, dass Frontex den Schutz der Grundrechte sehr ernst nehme, hat er bereits Kenntnis vom Inhalt des Olaf-Berichts. Das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG), das Bundesrat Ueli Maurer untersteht, bestätigt auf Anfrage der WOZ, dass die Mitglieder die Möglichkeit hatten, den Bericht vor Ort einzusehen. «Die Schweizer Vertreterin im Verwaltungsrat hat am 7. März 2022 davon Gebrauch gemacht und in der Folge Bericht erstattet.» Was bedeutet, dass wahrscheinlich mindestens auch SVP-Finanzminister Maurer von diesem Zeitpunkt an Kenntnis vom verheerenden Befund der Untersuchung hatte.
Ganz im Gegensatz zu den Stimmberechtigten, die sich zu diesem Zeitpunkt eine Meinung zur weiteren Beteiligung der Schweiz am Ausbau der EU-Grenzschutzagentur bilden sollten. Im Vorfeld der Abstimmung über das Frontex-Referendum im Mai war zwar bekannt, dass ein Untersuchungsbericht vorliegt, der wohl belastende Erkenntnisse enthält. Und viele der jetzt publik gemachten Befunde von Olaf waren schon früher von Journalist:innen aufgedeckt worden.
Eine amtliche Untersuchung aber hat mehr Gewicht als Medienberichte. Der Stimmbevölkerung das Untersuchungsergebnis von Olaf zur Verfügung zu stellen, wäre eine demokratiepolitische Notwendigkeit gewesen. Nicht zuletzt, um Aussagen wie diejenige von Benz einordnen zu können. Seine Einschätzungen sind vor dem Hintergrund der ihm bekannten Untersuchungsergebnisse mindestens irritierend.
Beinahe täglich Verstösse
Das BAZG macht geltend, dass die Veröffentlichung des Berichts Angelegenheit der zuständigen EU-Institutionen sei, die Schweiz sich aber stets für eine transparente Kommunikation eingesetzt habe. Überprüfen lässt sich das nicht. Hinsichtlich der Einschätzung von Benz zur Bedeutung von Grundrechten hält das Bundesamt fest: «Die Aussage bezog sich auf die Weiterentwicklung von Frontex und die ergriffenen Massnahmen in Bezug auf den Ausbau des Grundrechtsschutzes.»
Tatsächlich geht es in der Olaf-Untersuchung um Vorfälle aus dem Jahr 2020. Der damalige Direktor Fabrice Leggeri ist Ende April zurückgetreten – offenbar auf Druck des Verwaltungsrats nach dessen Einsicht in den Untersuchungsbericht. An den strukturellen Voraussetzungen, die die von Olaf belegten Verbrechen von Frontex ermöglicht haben, hat sich seither aber kaum etwas geändert. Daran, dass NGOs von beinahe alltäglichen Rechtsverstössen an den EU-Aussengrenzen berichten, ebenfalls nicht. Leggeris Nachfolgerin Aija Kalnaja hat den Olaf-Bericht laut dem «Spiegel» nicht einmal gelesen.