Atelier Hermann Haller: Ein gelungenes Experiment

Nr. 32 –

Geschickt kombinierte zeitgenössische Kunst ermöglicht einen frischen Blick auf die Frauenskulpturen eines altehrwürdigen Bildhauers.

Ausstellungsraum im Hermann-Haller-Atelier-Haus mit Hermann Hallers Skulptur «Mädchen mit erhobenen Armen»
Hermann Hallers «Mädchen mit erhobenen Armen» streckt sich in der aktuellen Ausstellung aus einem Farbenmeer dem Licht entgegen. Foto: Sebastian Schaub

Wer vom Zürcher Bellevue dem See entlang Richtung Goldküste schlendert, passiert irgendwann bei der Blatterwiese im Seefeldquartier ein altes Holzhaus, eingeklemmt zwischen dem Le-Corbusier-Pavillon und den Villen auf der anderen Strassenseite. Es sieht heruntergekommen aus, die Farbe blättert an einigen Ecken ab, nur das Schild an seiner Frontseite glänzt: «Hermann Haller Atelier».

Sobald man, neugierig geworden, die Holzrampe zum Haus hinaufgeht und durch die weit geöffneten Holztüren schaut, steht einem eine Zürcher Prominenz gegenüber. Es ist das «Mädchen mit erhobenen Armen». Eine vier Meter hohe Statue, die seit 1968 auf einem Sockel hoch über der Landiwiese thront. Natürlich ist es nicht genau dieselbe Skulptur, sondern das Gipsmodell, nach dem später die Bronzefigur entstand. Die meisten Stadtbewohner:innen kennen die monumentale Frauenfigur gut, die wenigsten wissen, wer sie erschaffen hat.

Der 1950 verstorbene Hermann Haller war der berühmteste Schweizer Plastiker des frühen 20. Jahrhunderts. Das alte Holzhaus war sein Atelier, hundert Jahre nach dem Höhepunkt seines Schaffens findet sich hier immer noch ein Grossteil seines Werkes. Und der Grossteil seines Werkes sind: nackte Frauen. Es braucht keinen feministisch geschärften Blick, um zu bemerken, dass Hallers Frauenkörper alle normschöne und fast schon kindliche Brüste, Bäuche, Oberschenkel und Pobacken zur Schau stellen. Haller ist mit der Schwerpunktsetzung weiblicher Akt nicht allein: Es ist eines der meist frequentierten Motive in der Kunstgeschichte.

Warten auf Erleuchtung

Entsprechend wenig wurde Hallers Werk zu Lebzeiten hinterfragt. «Je sculpte par cœur», sagte er: dass er auswendig, also ohne Vorlage oder in wörtlicher Übersetzung «aus dem Herzen» skulpturierte, mag stimmen – doch es bedeutet eben auch, dass in seinem Herzen vorzüglich Frauen ohne Kleider hockten. Hallers Werk symbolisiert den klassischen «male gaze» in der Kunst. Dieser «männliche Blick» wurde von John Berger in seinem richtungsweisenden Buch «Ways of Seeing» (1972) zum ersten Mal beschrieben: «Männer handeln, und Frauen treten in Erscheinung. Männer sehen Frauen an. Frauen sehen sich, wie sie angesehen werden.»

Warum also sollte man in das Atelier reingehen, anstatt einfach weiterzuspazieren? Haben wir nach Jahrhunderten von heterosexuell-männlich dominierten Frauenakten nicht genug davon gesehen? Dante schrieb vor Urzeiten, dass Kunst eine erleuchtende Aufgabe haben soll («illuminans») – tja, erleuchten uns Hallers Skulpturen noch?

Die Kuratorinnen Maren Brauner und Irene Grillo geben eine von vielen möglichen Antworten auf diese Fragen. Zum dritten Mal in Folge kuratieren sie nun die Sommerausstellung im Hermann-Haller-Atelier und setzen seine Skulpturen in einen Dialog mit gegenwärtiger Kunst. Hallers Werk steht also nicht alleine im Raum, sondern wird in der Ausstellung «Abstrakt gedacht» von fünf zeitgenössischen Künstlerinnen erweitert.

So steht das «Mädchen mit erhobenen Armen» vor und auf einem Farbenmeer – im Hintergrund florieren Aquarelle, am Boden ist ein asymmetrisches Keramikmosaik ausgelegt. Die zwölf Aquarelle, die in einer Reihe an der Wand ausgestellt werden, sind traumartige Farbwelten der Zürcher Künstlerin Shannon Zwicker. Fast schon organisch wirken die Aquarelle, die aus mehreren aufeinandergelegten Papierschichten bestehen. Hallers kleinere, liegende Skulpturen wurden von der Künstlerin unter den Aquarelluniversen in einem Holzregal arrangiert. Sie scheinen sich dort auszuruhen, im Dialog mit den farbenfrohen Bildwelten verlieren sie ihre erzwungene Erotik. Denselben Effekt erzielt Clare Goodwin mit ihren Gemälden aus Keramikfliesen. Die britische Künstlerin erschuf die Fliesen in einem mehrteiligen Arbeitsprozess, um sie danach zu kaleidoskopischen Gemälden am Boden des Ateliers zusammenzusetzen. Auf den Werken wurden stehende Frauenfiguren Hallers so arrangiert, dass es scheint, als ob sie über die Fliesen wandeln – und einen wunderbaren Auftritt hinlegen.

Langsam absacken

Es herrscht insgesamt eine fröhliche Stimmung im alten Atelier, der Monotonie von Hallers Werk stehen die abstrakt-freien Werke der Künstlerinnen gegenüber, in den Arrangements gelingt ein Wechsel der Dominanz und der Blickrichtung. Die Frauenskulpturen, die unter dem Male Gaze erschaffen wurden, dominieren nun eher spielerisch und selbstbestimmt als sexualisiert den Raum. Der Blickwechsel findet nicht nur räumlich, sondern auch abstrakt statt: Das Atelier wird von Frauen geleitet und zugänglich gemacht. Hallers handwerklich makellose Werke darf man weiterhin bewundern – allerdings in neuen Kontexten. Post mortem verwandelt sich der Künstler vom berühmten Betrachter quasi zum Betrachteten: zum Zeitzeugnis einer vergangenen Mentalität und Gesellschaft.

Es bewegt sich etwas – übrigens nicht nur auf der metaphorischen Ebene. «Das Atelier sackt langsam ab», erklärt die nette Ausstellungsaufsicht, «es verliert mit jedem Jahr an Halt, der Boden wird immer schräger und schräger.» Vielleicht, wer weiss, macht es irgendwann etwas ganz Neuem Platz.

Die Sommerausstellung «Abstrakt gedacht» ist noch bis am 2. Oktober 2022 im Atelier Hermann Haller an der Höschgasse 8a in Zürich zu sehen.