Filmfestival Locarno: «Was bringt jetzt diese ästhetische Nostalgie?»

Nr. 32 –

Kevin B. Lee ist mit seinen Videoessays im Internet bekannt geworden, heute ist er das intellektuelle Gewissen des Filmfestivals Locarno.

Filmstill aus «Den siste våren»: Schauspielerin Keira LaHart als jüngere Schwester mit goldenem Glitzer im Gesicht
Da funkelt etwas im Lichtspielhaus: Keira LaHart als jüngere Schwester in «Den siste våren» von Franciska Eliassen, einer echten Entdeckung am Filmfestival Locarno.

WOZ: Herr Lee, vor einem Jahr wurden Sie vom Filmfestival Locarno und von der Universität in Lugano zum «Professor for the Future of Cinema» ernannt. Fangen wir mit der naheliegenden Frage an, auch wenn sie albern klingt: Wie sieht die Zukunft des Kinos aus?
Kevin B. Lee: (Lacht.) Einerseits passiert die Zukunft immer jetzt: Mit jedem Moment gehen wir in die Zukunft. Und es lenkt auch ab, wenn wir zu weit vorausdenken – weil wir dann weniger aufmerksam sind für das, was sich gerade vor unseren Augen entwickelt. Andererseits ist es schön, weit in die Zukunft zu denken und sich zu fragen, was in einigen Jahren oder Jahrzehnten sein wird. Aber diese beiden Perspektiven bedingen einander. Man muss versuchen, sie in einen kritischen Dialog zu bringen.

Infolge der Pandemie und jetzt der Energiekrise ist damit zu rechnen, dass spätestens nach dem nächsten Winter etliche Kinos eingehen werden. Da müsste die Frage wohl eher lauten: Wo hat das Kino seine Zukunft?
Es hat fast etwas Absurdes: Seit zwei, drei Jahren üben wir uns darin, eine Zukunft zu antizipieren, die laufend neue Überraschungen bringt. Während der Pandemie habe ich viele Workshops über Videoessays gegeben. Das war eine pragmatische Lösung, um auch im Lockdown beim Kino zu bleiben – in gewisser Weise zeigte meine Arbeit also, wie es trotzdem weitergehen könnte. Aber nach zwei Jahren mit virtuellen Workshops und Vorträgen war ich dann auch etwas ausgebrannt, um ehrlich zu sein. So habe ich die Präsenz im Kinosaal wieder zu schätzen gelernt. Die Vorstellung, dass das in sechs Monaten nicht mehr möglich sein könnte, finde ich deprimierend. Das Kino braucht eine Vielfalt an Optionen, wie es praktiziert und erlebt wird.

Was ist denn so wichtig am Erlebnis im Saal, wie das auch hier in Locarno alljährlich beschworen wird?
Es geht eben nicht nur um das, was auf der Leinwand geschieht, sondern auch um die Gegenwart, die wir mit anderen teilen. Kino war immer eine körperliche Erfahrung, das wurde früher oft etwas unterschätzt: Es aktiviert nicht nur unsere Augen und unseren Geist, sondern auch unseren Körper. Und das Kino als Raum, wo wir die physische Anwesenheit anderer Menschen spüren: Das hat mit Covid nochmals eine neue Dimension erlangt. Wie auch die Fähigkeit, mit Menschen, die wir nicht kennen, einen Raum zu teilen und durch das, was auf der Leinwand vor sich geht, ein gemeinsames Referenzsystem zu etablieren, auch ein geteiltes Wissen. In dieser Hinsicht bin ich sehr ernüchtert von den sozialen Medien.

Wieso?
Social Media führen uns heute nur tiefer hinein in unseren eigenen Bezugsrahmen, mit unseren eigenen Vorstellungen davon, was wir für echt oder für wahr halten. Die Fähigkeit, sich mit dem auseinanderzusetzen, was uns fremd ist, ist dort erodiert oder verloren gegangen. Das Kino ermöglicht uns, in diese Dimension des Fremden einzutreten, wo wir miteinander nicht vertraut sind und doch den gleichen Raum einnehmen können.

Auch Festivalpräsident Marco Solari und sein Direktor Giona Antonio Nazzaro betonen bei jeder Gelegenheit ihren Glauben an die Zukunft. Zugleich kursiert in Locarno der Running Gag, wonach die besten Filme sowieso in der Retrospektive laufen würden.
Das ist einfach eine faule, reaktionäre Einstellung. Man schliesst so schon zum Vornherein aus, dass man etwas Neues entdecken könnte. Bei mir provoziert das gleich die Frage: Auf welcher Basis nimmt jemand diese Wertung vor? Okay, klar ist Douglas Sirk einer der grössten Regisseure aller Zeiten, und es ist fantastisch, seine Filme in der Retrospektive auf der grossen Leinwand sehen zu können. Aber das ist auch eine Art von Kino, das in seiner Orientierung stark dem 20. Jahrhundert verhaftet ist: Es ist auf den Autor zentriert, nach dem Modell, wie sie es damals bei den «Cahiers du Cinéma» entworfen haben. Die Grundlagen solcher Bewertungen sollten wir stets hinterfragen. Wer davon ausgeht, dass das Kino heute angeblich nie so gut ist, wie es früher war, hat das Spiel schon aufgegeben. Und wenn das Kino eine Zukunft finden soll und wir das Erbe der «Cahiers du Cinéma» ehren wollen, dann müssen wir in den Filmen von heute das entdecken, was wir für relevant erachten.

Können Sie ein Beispiel geben?
«Matter Out of Place» von Nikolaus Geyrhalter ist ein eindrücklicher Film darüber, was die Menschheit diesem Planeten antut. Und er konfrontiert uns auch mit der Frage, was es heisst, wenn wir Abfall und Zerstörung des Planeten ästhetisieren: Wie gehen wir mit der filmischen Schönheit dieser Bilder um, wie bewerten wir das? «Oh, der Planet geht zur Hölle, aber die Inszenierung ist echt bewundernswert!» (Lacht.) Was bedeutet es, wenn wir so darauf reagieren? Angesichts solcher Filme muss die Kritik sich fragen, was denn die Rolle des Kinos sein könnte an diesem bestimmten Punkt der Menschheitsgeschichte. Oder nehmen wir «Don’t Look Up».

Die Netflix-Satire über die Ignoranz angesichts der drohenden Klimakatastrophe.
Ein Film mit einer klaren Message, aber von der Kritik wurde er vielerorts als beschissenes Machwerk abgekanzelt, das populistische Gefühle bediene. Doch wenn «Don’t Look Up» als Kunstwerk nicht akzeptabel ist, wie müsste denn ein Film über diese drängenden Fragen aussehen, damit er auch als Meisterwerk des Kinos durchgeht? Gerade habe ich bei der Zeitschrift «Sight & Sound» meine Stimme abgegeben für die Liste mit den besten Werken der Filmgeschichte, die sie dort alle zehn Jahre küren. Und ich dachte mir: Was bringt das jetzt, diese ästhetische Nostalgie für die Greatest Hits des Kinos, angesichts von Krieg und Klimakatastrophe? Benutze ich das Kino der grossen Meister, um mich vor diesen Sorgen abzuschirmen? Oder sind die grössten Filme heute eher solche, die sich mit unserer Zivilisation zum jetzigen Zeitpunkt befassen?

Also haben Sie «Don’t Look Up» auf den ersten Platz gesetzt?
Nein! Ich habe mich für «Les Glaneurs et la Glaneuse» von Agnès Varda entschieden. Ein Film nicht direkt über die Umweltkrise, aber darüber, wie wir Dinge nutzen, über das Verhältnis der Menschen zu Werkstoffen. Das ist sehr leicht und unterhaltsam, manche Leute scherzten damals, das sei Michael Moore fürs denkende Publikum. Aber wie Varda sich selbst und die Kamera als Forschungswerkzeug benutzt: Darin ist der Film heute gegenwärtiger denn je.

Kennen Sie den Schweizer Regisseur Clemens Klopfenstein? Haben Sie die Fotomontage von der Piazza Grande gesehen, die er ins Netz gestellt hat, mit der auf Tiktok-Format gekippten Leinwand?
Nein, er sagt mir nichts. Aber das Bild habe ich gesehen.

Sie scheinen das nicht so lustig zu finden.
Nun, ich habe kürzlich etwas über generationenspezifischen Humor gelesen. Und ich glaube, ein solcher Scherz spricht eine Generation an, für die das hochformatige Filmbild an sich schon etwas Absurdes ist.

Ich habe das anders gelesen: als ironischen Anstoss, die altgedienten Formate des Kinos im Zeitalter von Handyvideos mal anders zu drehen. Sie sahen das als Witz eines Boomers, der sich über Tiktok lustig macht?
Vielleicht. Aber Ihre Interpretation gefällt mir besser, sie ist grosszügiger und optimistischer. Ja, warum nicht? Es gab ja schon Festivals für Hochformatfilme, vor fast zehn Jahren gabs mal eines in Australien – in einer Kirche, was natürlich das passende architektonische Umfeld für Filme im Hochformat war. Insofern lädt auch dieses Bild dazu ein, etwas zu entdecken, was zuvor noch nicht existierte. Und genau das sollte ein Festival tun.

Kevin B. Lee
Kevin B. Lee

Die Videoessays und Desktopfilme von Kevin B. Lee sind auf Vimeo zu finden. «Matter Out of Place» von Nikolaus Geyrhalter läuft noch am 11. und 12. August 2022 in Locarno, Spielzeiten siehe www.locarnofestival.ch.

Neue Filme in Locarno : Trachten von einem anderen Planeten

Und dann, nach ungezählten Filmen, langen und kurzen, manche lustig, viele trostlos, doch mal eine echte Entdeckung am Filmfestival: Franciska Eliassen, ein Name, den man sich merken sollte. «Den siste våren» heisst der erste Spielfilm der 25-jährigen Norwegerin, englischer Titel: «Sister, What Grows Where Land Is Sick?». Zwei jugendliche Schwestern in einem Nest irgendwo weit im Norden, die ältere wird immer wieder auf eigenartige Weise verhaltensauffällig. Ein Fall von Solastalgie: Sie selber jedenfalls bringt ihr psychisches Leiden in Zusammenhang mit dem, was der Mensch dem Planeten antut. Sollen wir das Wahn nennen, ist es nicht eher höhere Vernunft?

Es klingt fast nach dem alten Künstlermythos vom solitären Genie, wenn die Regisseurin vom Réduit erzählt, in dem sie die ökofeministische Vision ihres Films erdacht habe: eine selbstgebaute Hütte auf den Lofoten, wo sie während anderthalb Jahren abgeschieden in der Wildnis lebte. Mythos oder nicht, «Den siste våren» ist ein Werk von unbändiger Zartheit, getragen von zwei starken Darstellerinnen und visuell immer wieder so überraschend und von solchem Reichtum, dass man dem Film zu keiner Zeit ansieht, mit wie wenig Geld er entstanden ist. Und mittendrin eine Art psychedelischer Hexensabbat, mit farbigem Rauch und Kostümen, die aussehen wie Trachten von einem anderen Planeten.

Lustig und trostlos zugleich wars dann bei Alexander Sokurow, mit 71 Jahren der älteste Jungfilmer in Locarno: stets bereit für ein experimentelles Wagnis, als würde er das Kino jedes Mal neu entdecken. «Skazka» heisst seine neuste Arbeit, aber dieses russische Märchen ist eher ein grimmiger Witz. Hitler, Stalin und Mussolini stehen an der Himmelspforte und warten auf Einlass, Churchill ist auch dabei. Die drei Despoten des 20. Jahrhunderts wandeln in multipler Ausführung durch eine graue, endzeitliche Fantasielandschaft – ein gespenstischer Limbo der Weltgeschichte, irgendwo zwischen Videogame und danteskem Inferno. Sokurow hat dafür historische Aufnahmen seiner Figuren digital bearbeitet und nachsynchronisiert, weshalb diese jetzt gerne über Mussolinis Uniform witzeln. Und einmal setzt sich Hitler auf ein Klo, das gleich von drei Spülkästen gespeist wird. Tja. Inhaltlich wie politisch fällt der Film leider weit hinter seine experimentelle Form zurück. Und als Witz hat er sich auch bald totgelaufen.

Da behalten wir lieber die Songs aus «Ruthless Times» im Ohr, einem dokumentarischen Musical zur Care-Ökonomie. Regisseurin Susanna Helke zeigt darin, dass die Altenpflege längst Züge einer real existierenden Dystopie hat. Die Zeugnisse von Pflegerinnen, die anonym bleiben wollten, hat die Komponistin Anna-Mari Kähärä für den Film in zornige Songs verwandelt. Gegen neoliberale Floskeln und Missstände in der Pflege hilft nur eins: im Chor dagegen ansingen.

Florian Keller