Krieg in Gaza: Eine depressive Generation

Nr. 32 –

Nach der Gewalteskalation herrscht zwischen Israel und militanten Gruppen Waffenruhe. Die Hoffnungslosigkeit der Kinder in Gaza bleibt.

Es gibt nur wenige Grenzen, die so streng überwacht sind: Erez ist der einzige Fussgängerübergang zwischen dem Gazastreifen und Israel, zwischen den Menschen in Gaza und ihren Verwandten in Israel und den Palästinenser:innengebieten. Es wäre zu gefährlich für Israel, liesse man sie frei passieren, heisst es von israelischer Seite. Umgekehrt dürfen aber auch Israelis nicht nach Gaza reisen, weil dies für sie wiederum zu gefährlich wäre, so die Regierung in Jerusalem.

Wer diese Grenze passieren darf, braucht gute Gründe: Er muss einer der Erntehelfer oder der Bauarbeiter sein, die Israel dringend benötigt. Oder sie muss einen medizinischen Ernstfall geltend machen und es schaffen, eine Durchreiseerlaubnis zu bekommen, um in einem palästinensischen Krankenhaus in der Westbank oder in Ostjerusalem eine Therapie zu erhalten, die es im Gazastreifen nicht gibt.

Nur wenig führt die Blockade des Gazastreifens so gut vor Augen wie der Grenzübergang Erez. Auf israelischer Seite riecht es nach Gülle, in den nahe gelegenen Kibbuzim wird der nationale Bedarf an Kartoffeln und Zwiebeln gedeckt. Auf der Gazaseite ziehen vereinzelt Pferdewagen durch das dürre Gebiet, das der strengen Bewachung durch Radarstationen, Drohnen und Wachposten unterliegt.

Die Welt blickt nur nach Gaza, wenn wieder Raketen und Bomben fliegen. Doch in den Köpfen der Menschen dort ist der Krieg immer präsent. Während sie noch mit den Folgen des letzten Krieges kämpfen, plagt sie die Sorge, dass morgen der nächste ausbricht.

Keine Ausreiseerlaubnis

Am vergangenen Freitag war es wieder so weit. Die israelische Armee, in Erwartung eines Terroranschlags der Gruppe «Islamischer Dschihad» in Gaza, bombardierte mehrere Ziele im Gazastreifen. 46 Menschen kamen dabei ums Leben, darunter 16 Kinder. Mehr als 1700 Wohneinheiten wurden beschädigt. Militante Palästinenser wiederum feuerten Raketen auf Israel ab. Diesmal dauerten die Gefechte zwar relativ kurz, nach 56 Stunden kehrte Waffenruhe ein. «Aber wir wissen, dass es jederzeit wieder losgehen kann», sagt die neunzehnjährige Maha, die ihren Nachnamen lieber nicht publiziert haben möchte.

Maha war vier Jahre alt, als Israel die Blockade über Gaza verhängte. Sie hat den Gazastreifen noch nie verlassen, weil sie es nicht darf. Mahas grosser Bruder Achmad hatte ein Stipendium für ein Auslandsstudium in den USA erhalten, konnte es aber nicht antreten. Israel gab keine Erlaubnis für die Durchreise zum Flughafen, das Stipendium verfiel.

Vierzig Kilometer lang ist der Gazastreifen, mehr als zwei Millionen Menschen leben dort, fast die Hälfte davon sind Kinder. Sie wissen nicht, wie sich ein Leben ohne Angst vor Bomben anfühlt. Wer jünger ist als sechzehn Jahre, hat noch nie erlebt, was es heisst, sich frei bewegen zu dürfen.

Die üblichen Zukunftsängste – materielle Sorgen, Klimakrise, Pandemie – werden überlagert von konkreter Überlebensangst: dass das Haus, das im letzten Krieg zerstört wurde und erst halb aufgebaut ist, beim nächsten Beschuss erneut zerbombt wird. Dass noch ein Verwandter verschüttet wird, noch ein Kind Gliedmassen verliert. Dass ein weiterer Mensch im nahen Umfeld eine Krebsdiagnose erhält und darum bangen muss, eine Einreiseerlaubnis nach Israel zu bekommen, um jene Strahlentherapie zu erhalten, die es in Gaza nicht gibt. Während die Welt darüber diskutiert, ob Israel ein Recht auf Verteidigung hat oder die Palästinenser:innen ein Recht auf Widerstand, werden die Kinder in Gaza zwischen ihrer eigenen Hoffnungslosigkeit und der Tatenlosigkeit der internationalen Gemeinschaft zerrieben.

Kaum Therapieplätze

Dass das ganz konkrete gesundheitliche Folgen hat, belegt eine aktuelle Studie. Laut einer mehrjährigen Untersuchung der Kinderhilfsorganisation Save The Children leiden aktuell 84 Prozent der Zwölf- bis Siebzehnjährigen in Gaza unter Angstzuständen. Vor vier Jahren waren es 50 Prozent. Der letzte Krieg im Mai 2021 habe den Rest an psychischer Widerstandskraft, den sich Eltern und Kinder noch bewahrt hatten, aufgefressen, sagt Jasser Abu Jamei, Leiter des Zentrums für psychische Gesundheit in Gaza-Stadt. Es ist eines der wenigen Versorgungszentren für Kinder mit psychischen Problemen, aber es kann nur einen kleinen Teil des Bedarfs decken.

Da es an Therapieplätzen fehlt und die Kinder und Jugendlichen ihren psychischen Problemen überlassen werden, wächst in Gaza eine depressive Generation heran. Von jenen Kindern, die unter Angstzuständen leiden, äussern 92 Prozent ihre Probleme in aggressivem Verhalten. Die Gründe liegen laut der Studie vor allem in der ständigen Furcht vor Krieg, aber auch in den Folgen der Blockade. Die Aussichten für Junge, später einen Job zu bekommen, sind ernüchternd gering.

Humanitäre Organisationen in Gaza warnen, dass sich der mentale Zustand der Bevölkerung weiter verschlechtern wird, sollte es keine politische Lösung geben, die Krieg und Blockade ein Ende setzen würde. Maha, die in Gaza-Stadt eine Krankenpflegeausbildung absolviert, gibt die Hoffnung nicht auf. «Ich will nicht aus Gaza weg», sagt sie. «Ich will nur, dass es ein sicherer Ort wird.»