Gazastreifen: «Bei jedem Angriff stecken sich die Kinder die Finger in die Ohren»

Nr. 42 –

Beschuss, die Blockade von Strom und Hilfsgütern, eine drohende Bodenoffensive und kaum noch Trinkwasser. Wie überleben die Menschen in Gaza? Zwei von ihnen berichten.

Palästinenser:innen warten an der Grenze zu Ägypten
Ungewissheit vor verschlossenen Toren: Palästinenser:innen warten an der Grenze zu Ägypten. Foto: Haitham Imad, Keystone

Seit dem Terrorangriff der Hamas, bei dem vor knapp zwei Wochen im Süden Israels mindestens 1400 Menschen brutal getötet wurden, beschiesst die israelische Armee den Gazastreifen aus der Luft und mit Artillerie. Das erklärte Ziel der israelischen Regierung: die Hamas zerschlagen. Doch in dem dicht besiedelten Landstreifen treffen die Angriffe auch Wohnhäuser, Schulen, Bäckereien, Moscheen – und zahlreiche Zivilist:innen. Nicht immer ist dabei klar, wer tatsächlich verantwortlich ist, so wie bei der Zerstörung eines Spitals mit mindestens 200 Toten am Dienstag.

Weder Strom noch Benzin

Bilder aus Gaza zeigen Väter, die ihre toten Kinder aus den Trümmern ziehen, Mütter, die in überfüllten Spitalgängen zusammenbrechen, dem Erdboden gleichgemachte Stadtviertel. Deutlich mehr als 3000 Personen wurden laut dem Gesundheitsministerium in Gaza bisher getötet, zwei Drittel davon sind laut «Guardian» Kinder. Hunderte weitere liegen noch unter Schutt begraben.

«Das ist keine weitere Schlacht, es ist ein totaler Krieg», schreibt Taher A., ein Freund aus Gaza, per Whatsapp nach der ersten Nacht der Bombardierungen. Dann schickt er ein Foto: Es zeigt ihn und einen anderen Mann. Sie lachen, im Hintergrund das Meer. «Das ist mein bester Freund, er wurde gestern getötet.»

Taher A. lebt mit seiner Frau Najwa und den drei Kindern in einem kleinen Haus am Rand des Flüchtlingslagers Nuseirat, in der Mitte des Gazastreifens. Später schreibt er, Najwa habe sich in den Schlaf geweint. Ein guter Freund ihres Sohnes sei bei einem Luftangriff getötet worden. Auf die Frage, wie es seinen Kindern gehe, antwortet er: «Ich versuche, sie zu beruhigen. Wir machen Kartenspiele. Wenn wir Strom haben, lasse ich sie einen Film schauen.» Und weiter: «Bei jedem Bombenangriff stecken sich die drei die Finger in die Ohren, bis ich ihnen sage, dass sie loslassen können.» Das sei Teil ihrer Überlebensstrategie.

«Wir sitzen alle zusammengekauert auf einer grossen Matratze, die wir unter die Treppe geschoben haben. Wir wollen entweder alle gemeinsam sterben. Oder gemeinsam überleben», schreibt Taher A. Bei einem Bombenangriff in der Nähe seien die Fenster ihres Hauses zersprungen. «Nichts und niemand ist sicher hier», fährt er fort. «Wir haben noch zwei Stunden Strom pro Tag, die Vorräte werden knapp, das Trinkwasser geht bald aus.»

Fliessendes Wasser gebe es schon länger nicht mehr. Nach dem Terrorangriff der Hamas hat Israel die Blockade des Gazastreifens verschärft und diesen komplett abgeriegelt: Weder Lebensmittel noch Strom, Wasserflaschen, medizinische Güter oder Benzin kommen durch. Das einzige Kraftwerk in Gaza musste seinen Betrieb einstellen, weil der Treibstoff für die Stromerzeugung ausgegangen war. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz warnte letzte Woche, die Spitäler liefen Gefahr, ohne Strom zu Leichenhäusern zu werden. Die Krankenhäuser stehen in Gaza vor dem Kollaps: Nicht nur befinden sich dort Tausende Verletzte, sondern auch Zehntausende von Menschen, die Schutz vor den Bomben suchen. Auch die öffentlichen Wasser- und Abwassernetzwerke funktionieren ohne Strom nicht mehr. Sauberes Wasser war in Gaza schon vor dem Krieg knapp. Nun stehe das Leben von zwei Millionen Menschen auf dem Spiel, wenn dieses vollständig ausgehe, kommunizierte das Uno-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge UNRWA am vergangenen Samstag: «Es ist eine Frage von Leben und Tod.»

Der Weg nach Ägypten ist versperrt

Die 2,3 Millionen Menschen in Gaza können nirgendwohin fliehen. Seit sechzehn Jahren leben sie eingepfercht auf einem 365 Quadratkilometer grossen Landstreifen. Der einzige Ausweg vor den israelischen Angriffen wäre nach Ägypten, doch dieses hält seinen Grenzübergang bei Rafah geschlossen.

Von jenen, deren Häuser zerstört wurden, fliehen viele daher in die Schulen der Uno. Mehr als 400 000 Menschen haben dort in den letzten Tagen Schutz gesucht. Doch es fehlt ebenfalls an Wasser, die hygienischen Bedingungen sind katastrophal. Andere fliehen zu Verwandten, deren Häuser noch stehen. Etwa zu Mona S., die mit ihrem dreizehnjährigen Sohn und ihrer Mutter im Osten von Gaza-Stadt lebt. Drei Familien mit kleinen Kindern seien zu ihnen geflüchtet, schreibt sie via Whatsapp. Sie versuche, die Kinder abzulenken, aber sie könne die Explosionen nicht wegzaubern. «Wenn wir Strom haben, gebe ich meinem Sohn den Laptop und lasse ihn alle Spiele spielen, die ich ihm bisher verboten habe», schreibt sie. Dann macht sie trotz aller Verzweiflung einen Witz: «Er hat wohl gerade die beste Zeit seines Lebens.»

Mona S.’ Sohn lebt seit seiner Geburt unter der israelischen Blockade. Er hat all die Gewalteskalationen der letzten Jahre miterlebt. Laut Studien zeigen neun von zehn Kindern in Gaza Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung: unkontrollierbare Angstzustände, Depressionen und Suizidgedanken. Seit drei Tagen habe Mona S. nicht geschlafen, schreibt sie. Was sie dann tue? «Nichts. Wir sitzen im Dunkeln. Oder starren die Decke an.» Sie höre den ununterbrochenen Luftangriffen zu. Jetzt müsse sie stark sein. «Doch wenn das alles vorbei ist und falls wir überlebt haben, dann werden wir alle zusammenbrechen.»

«Jede Sekunde erwarten wir den Tod»

Am 13. Oktober hat die israelische Regierung – wohl in Vorbereitung auf eine Bodenoffensive – alle Menschen im nördlichen Gazastreifen aufgefordert, innerhalb von 24 Stunden in den Süden zu fliehen. Die Hamas, die dafür bekannt ist, Zivilist:innen als Schutzschilde zu missbrauchen, rief die Betroffenen dazu auf, in ihren Wohnungen zu bleiben, mehr als eine Million Menschen. «Was bisher geschah, ist die Hölle. Was noch kommt, führt in den Abgrund», schreibt Taher A. Während Hunderttausende vor der erwarteten Bodenoffensive mit Eselskarren, zu Fuss oder in Autos gen Süden geflohen sind, bleiben viele andere zurück: Kranke, Alte, Menschen mit Behinderungen, Verletzte, Ärzt:innen, Krankenpfleger:innen und alle, die nirgendwohin können.

Auch Mona S. ist mittlerweile geflohen, der Kontakt zu ihr ist abgebrochen. Es gebe keine sichere Route in den Süden, schreibt Taher A. Zwei Familien sei es gelungen, von Gaza-Stadt zu ihm zu fliehen. Er schickt ein Foto. Es zeigt neun Kinder, es ist dunkel, sie sitzen mit Taschenlampen am Boden und malen. «Ein Kindergarten für Geflüchtete», betitelt er das Bild.

In Taher A.s Haus gebe es inzwischen kein Trinkwasser mehr, schreibt er. Die Flaschen seien leer. Davon, dass die israelische Regierung am Sonntag mitteilte, die Wasserversorgung wieder aufgenommen zu haben, merkten sie bisher nichts. Sie würden nun das schmutzige und salzige Restwasser aus den Leitungen trinken. Kurz vor Redaktionsschluss schickt er eine Sprachnachricht. Er klingt erschöpft: «Die letzte Nacht war ein Inferno, meine Frau ist vor lauter Angst und Sorge zusammengebrochen. Alle sehen zu, wie wir unter den Trümmern unserer Häuser begraben werden. Alles, was wir wollen, ist ein friedliches Leben in Würde.» Dann sagt er: «Wir lieben das Leben, wir lieben es, unsere Kinder aufwachsen zu sehen. Aber jede Sekunde erwarten wir unseren Tod. Und dabei gibt es keinen Friedhof, der gross genug ist für uns alle.»