Israel/Palästina: Zum Armenhaus gebombt
Mit den Bombardierungen und der Blockade hat Israel im Gazastreifen auch die Wirtschaft systematisch zerstört.
Dschabalija, eine grössere Stadt im Norden des Gazastreifens. Dschamal Abdallah al-Hurani streift durch ein Trümmerfeld: Niedergerissene Wände, zerbrochene Fensterscheiben, zerschmetterte Steine, verkohltes kostbares Sandelholz liegen dort, wo bis vor kurzem noch sein Betrieb stand. In der Nacht auf den 28. Juli, den ersten Tag von Eid-al-Fitr, dem Fest am Ende des Fastenmonats Ramadan, warf die Luftwaffe der israelischen Streitkräfte drei Bomben über al-Huranis Tischlerei in der Salah-al-Din-Strasse ab. Jede der drei Bomben hatte eine Sprengkraft von 250 Kilogramm.
Keine Klagen zugelassen
Der 57-jährige dreifache Vater zeigt auf die zerstörten und verschmorten Überreste von Tischen, Stühlen, Sesseln und Betten. «Alle exakt nach Mass angefertigt, mit den besten Hölzern liebevoll verarbeitet und aufwendig verziert, so wie es unsere Kunden erwarten», bedauert er die Vernichtung seiner Werke. Die Tischlerei der Familie al-Hurani ist über die Stadt Dschabalija hinaus im ganzen Gazastreifen bekannt und sehr geschätzt, weil sie präzise arbeitet. Neben den Familienmitgliedern beschäftigte al-Hurani 25 Arbeiter in seiner grossen Werkstatt. «Sie alle sind durch die vollständige Zerstörung unseres Betriebs nun arbeitslos und wissen nicht, wie sie ihre Familie ernähren sollen. Wir wissen nicht, wie es für uns weitergehen soll», klagt al-Hurani. Rücklagen für den Bau einer neuen Werkstatt habe er nicht, und eine Klage auf Entschädigung des laut al-Hurani 450 000 US-Dollar grossen Schadens vor einem Zivilgericht in Israel ist auch nicht möglich. In einem israelischen Gesetz von 2007 wird der Gazastreifen als feindliches Gebiet definiert, womit Klagen auf Entschädigung für militärische Schäden im Gazastreifen vor israelischen Gerichten nicht zugelassen sind.
Abu Eida, eine der grössten Baufirmen des Gazastreifens, hat ihren Hauptsitz im Industriegebiet östlich von Dschabalija. Mehrere 250-Kilo-Bomben warf die israelische Luftwaffe am 2. August über dem Firmenkomplex ab, die genaue Anzahl kann Abed Rabu Abu Eida, der Geschäftsführer des Baukonzerns, nicht nennen, da er zum Zeitpunkt der Bombardierungen zu Hause war. Ein Augenschein auf dem zerstörten Betriebsgelände macht das Ausmass der Zerstörung deutlich: Die drei grossen Betriebsstätten, alle solide aus Stahlbeton errichtet, die Lagerhalle mit Zement und Bausteinen – sie sind zerstört, ebenso wie der Fuhrpark mit den Baumaschinen. Abu Eida beziffert die Schadenssumme auf 7,5 Millionen US-Dollar. Seine siebzig festangestellten ArbeiterInnen habe er umgehend entlassen müssen, da die Firma nicht mehr operieren könne. Hunderte Zeitarbeiter, die Abu Eida für grössere Bauprojekte zusätzlich beschäftigte, stehen nun ebenfalls ohne Einkommen da. «Die Luftwaffe hatte bereits 2008 und 2012 unser damaliges Werksgelände vollständig zerstört, und wir hatten auch damals aufgrund des 2007 erlassenen Gesetzes keine Entschädigung erhalten», berichtet Abu Eida. «Nun haben wir kein Geld mehr, um unsere Firma ein drittes Mal neu aufzubauen.»
Im Industriegebiet von Dschabalija führt Wael al-Wadia, Eigentümer der Saraio-Süsswarenfabrik, durch seine zerstörten Hallen, in denen zuvor Speiseeis, Biskuits und Kuchen hergestellt wurden. «Hundert Arbeiter hatte ich fest angestellt. Hundert Arbeiter, die hundert Familien ernährt haben und jetzt ohne Einkommen sind», sagt al-Wadia. Fünf Tonnen Süsswaren habe er pro Tag in der Fabrik produziert, nun sind alle Maschinen zerstört. Sieben Millionen US-Dollar würde eine Neuanschaffung der modernen Maschinen kosten, die er aus Italien importiert hat: «Wir haben hier die besten Biskuits des Gazastreifens gemacht. Alle Märkte in Gaza verkauften unsere Produkte, die so gut waren wie die Biscotti, die es in Italien gibt.»
In der Nähe stand auch der Bauernhof der Al-Fajumi-Familie. Sie hatte 150 Kühe und verkaufte die Milch zweimal am Tag an Molkereien. Am 2. August wurden die Ställe bombardiert und dabei 130 Kühe getötet, sagt ein Farmarbeiter, der seinen Namen nicht nennen will. Zehn Tage nach der Zerstörung ist er noch dabei, die Kadaver einzusammeln und zu verbrennen. Die halb verwesten und furchtbar stinkenden Kadaver einiger Rinder liegen neben verkohlten Hühnern. Eine Fliegenschar bedeckt die Kadaver. «Woher sollen die Fajumis jetzt neue Kühe bekommen?», fragt der Arbeiter. «Die Grenzen nach Gaza sind zu und die Schmugglertunnel zerstört.»
Zwischen dem 6. Juli und dem 3. August wurden im Gazastreifen Wohnhäuser, Fabriken, Krankenhäuser zerbombt. Schulen, Bauernhöfe und landwirtschaftliche Flächen wie die berühmten Orangenplantagen bei Beit Hanun; das einzige Elektrizitätskraftwerk des Gazastreifens; die grössten Moscheen, darunter die Imam-Schafije-Moschee in Zaitun, die 8000 Gläubigen Platz bot; das Gebäude von Al-Quds-TV, der grössten Fernsehanstalt im Gazastreifen.
Ein «humanitäres Katastrophengebiet»
Abdallah al-Frangi, der Gouverneur von Gaza und hoher Funktionär der Fatah, sagt gegenüber der WOZ, dass durch die Bombardierung Zehntausender Wohnhäuser rund 600 000 Menschen obdachlos geworden seien. Das wäre ein Drittel aller BewohnerInnen des Gazastreifens – Menschen, die nun in Kindergärten, Schulen, bei Verwandten, Freunden, Fremden oder sogar zwischen den Trümmern ihrer Häuser schlafen. Andere Quellen, hochrangige Politiker der Hamas, behaupten, es seien gar 700 000 Menschen.
Angesichts der verheerenden Zerstörungen der zivilen und ökonomischen Infrastruktur erklärte Palästinenserpräsident Mahmud Abbas am 31. Juli in Ramallah den Gazastreifen zum «humanitären Katastrophengebiet». Der Fatah-Vorsitzende forderte die Vereinten Nationen dazu auf, alles zu unternehmen, um den Menschen zu helfen. «Sind daraufhin im deutschen, österreichischen und Schweizer Fernsehen Spendengalas gesendet worden oder zumindest in Nachrichten Spendenkonten für die Not leidende Bevölkerung des Gazastreifens eingeblendet worden?», wollen die Menschen in Gaza von mir wissen.
Der Sozialökonom Muhsen Abu Ramadan, Direktor des Arabischen Zentrums für agrarökonomische Entwicklung im Gazastreifen, gilt als einer der renommiertesten Wirtschaftsexperten Palästinas. «Die ökonomische Krise begann wegen der seit acht Jahren anhaltenden Blockade des Gazastreifens lange vor der jüngsten Aggression», sagt er. Vor Beginn der Angriffe am 7. Juli waren 40 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitslos, 30 Prozent lebten unter der Armutsgrenze, 57 waren von Unterernährung bedroht, und 70 Prozent erhielten Lebensmittelpakete des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten oder anderer Hilfsorganisationen. «Diese Zahlen haben sich seit den Bombardierungen dramatisch erhöht», so Abu Ramadan.
Blockade gängelt die Wirtschaft
220 Fabriken zerstörte Israels Armee im Juli und August vollständig und Hunderte teilweise. Die direkten Schäden durch die Bombardierung von Landwirtschafsflächen schätzt Abu Ramadan auf 200 Millionen US-Dollar, die Höhe des gesamtwirtschaftlichen Schadens und die Kosten für die zerstörte Infrastruktur auf mehrere Milliarden. «Fünf Jahre würde Gaza brauchen, um die Infrastruktur wiederaufzubauen», meint er. Aber unter den gegenwärtigen Bedingungen der Besetzung und der Blockade des Gazastreifens würde auch in zehn Jahren der Wiederaufbau nicht zu schaffen sein. «Wir haben ein Recht auf Einfuhr von Baumaterialien; dieses Recht muss umgehend umgesetzt werden, vor allem mithilfe der internationalen Gemeinschaft», fordert Abu Ramadan, «ansonsten können wir unsere zerstörten Häuser und Fabriken nicht wiederaufbauen.»
Ein Vergleich der Beschäftigungsstatistiken belegt den dramatischen Niedergang der Wirtschaft durch die Blockade und den neusten Krieg. Vor Beginn der Blockade 2007 arbeiteten 54 000 Menschen in der Industrie und 60 000 in der Landwirtschaft, vor Beginn der Angriffe am 6. Juli immerhin noch 20 000 in der Industrie und 28 000 in der Landwirtschaft. Im Moment sind es wohl nur noch einige wenige Tausend Beschäftigte in beiden Sektoren. Hinzu kommen einige Tausend Angestellte des öffentlichen Diensts, die jedoch ihre Gehälter nicht immer pünktlich bekommen, und einige Tausend im Dienstleistungssektor sowie einige Tausend selbstständige Händler.
«Israel greift nicht nur direkt Zivilisten und ihre Häuser an, sondern zerstört auch systematisch die Wirtschaft des Gazastreifens, um die Bevölkerung von Nothilfe abhängig zu machen», resümiert Abu Ramadan. «Jetzt, wo beinahe die gesamte Wirtschaft zerstört ist, die Menschen nicht mehr arbeiten können und keine Kaufkraft mehr vorhanden ist, wollen noch mehr Jugendliche als zuvor auswandern. Durch das Abwandern von jungen qualifizierten Fachkräften wird die Wirtschaft noch mehr geschwächt.» Israel habe innerhalb von acht Jahren mit dem Embargo und den drei Angriffswellen aus Gaza ein Armenhaus gemacht. «Ohne die Beendigung des Embargos ist es uns nicht möglich, aus eigener Kraft diesen Teufelskreis zu durchbrechen», sagt Abu Ramadan.
Gazastreifen: Abbruch der Verhandlungen
Nach neun Tagen relativer Ruhe ist seit Dienstag der Krieg um Gaza wieder voll im Gange. Die einwöchigen, indirekten Verhandlungen zwischen VertreterInnen der israelischen Regierung und der Hamas in Kairo waren am selben Tag abgebrochen worden. Die Hamas feuerte einige Raketen auf Israel ab, worauf die israelische Luftwaffe ihre Angriffe wieder verstärkte und dabei mindestens elf Menschen tötete. Mittwoch früh versuchte Israel, den Chef der Kassam-Brigaden, des militärischen Zweigs der Hamas, mit einer Lenkwaffe zu treffen. Dabei starben die Ehefrau und ein Kleinkind Muhammad Deifs; ob der Militärchef selbst getroffen wurde, war bis Redaktionsschluss nicht bekannt.
Zahava Gal-On, die Vorsitzende der linken israelischen Partei Meretz, verurteilte zwar den Bruch des Waffenstillstands durch die Hamas, warf dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu aber vor, sich die Politik von der Hamas und Israels extremen Rechtsparteien diktieren zu lassen: «Mit diesem unnötigen Krieg wird er die Hamas nicht nur nicht besiegen können, er wird sie vielmehr fördern.»
Auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon verurteilte den Bruch des Waffenstillstands. Er forderte die Kriegsparteien auf, sich sofort auf einen «dauerhaften Waffenstillstand» zu einigen und dabei «auch die grundlegenden Probleme, die Gaza zusetzen, zu berücksichtigen». Damit kann er nur die umfassende Blockade meinen, mit der Gaza seit Jahren wirtschaftlich zerstört wird. Ihre Lockerung ist die Mindestkonzession, die die Hamas (und auch jede andere palästinensische Vertretung) von Israel verlangt.
Wohl wissend, dass sie internationales Recht bricht, verweigert die israelische Regierung seit Kriegsbeginn internationalen Menschenrechtsorganisationen den Zugang zum Konfliktgebiet. Amnesty International und Human Rights Watch werfen Israel in einer gemeinsamen Erklärung vor, mit «bürokratischen Spielen» zu verhindern, dass die Organisationen «Vorwürfen von Kriegsverbrechen» nachgehen könnten.
Der höchst asymmetrische Krieg kostete bis heute über 2000 PalästinenserInnen und 67 Israelis das Leben. Praktisch alle Israelis waren Soldaten, die während der Bodenoffensive im Gazastreifen umkamen. Demgegenüber sind nach Schätzungen der Uno über 1600 palästinensische ZivilistInnen getötet worden, darunter bis zu 480 Kinder. Ausserdem seien rund 425 000 PalästinenserInnen vertrieben worden – fast ein Viertel der Bevölkerung Gazas.
Markus Spörndli