Krieg in Gaza: Gebären unter Bomben

Nr. 43 –

Nach dem Tod des Hamas-Anführers Jahja Sinwar setzt Israel die Bombardierung des Gazastreifens fort. Wie eine schwangere Frau für ihr ungeborenes Kind kämpft und erschöpfte Ärzte für ihre Patient:innen.

Foto des Feldspitals in Deir al-Balah
Krankheiten breiten sich aus – besonders schwer trifft es die geschätzt 155 000 Schwangeren und stillenden Mütter: Feldspital in Deir al-Balah am 22. Juli. Foto: Majdi Fathi, Imago

Anfang September spürte Rawan Samih die Bewegungen des Kindes in ihrem Bauch nicht mehr. Stunden zuvor war ihr Vater vor ihrem Haus im Flüchtlingslager Nuseirat mit vier anderen Personen bei einem israelischen Luftangriff getötet worden. «Ich habe vor Trauer nichts mehr gefühlt», sagt die 25-Jährige, im sechsten Monat schwanger, am Telefon. Während im Gazastreifen nach einem Jahr der Bombardierungen das Gesundheitssystem weitgehend zusammengebrochen ist und Kinder an einfachen Krankheiten sterben, ist die Angst für Samih, die bereits zwei Kinder im Alter von drei und fünf Jahren hat, ein ständiger Begleiter.

Einige Tage später spürt Samih, dass ihr Kind lebt. Viel mehr weiss sie bis heute nicht. Ob es gesund ist? Ob ihre ständige Angst vor der nächsten Bombe Spuren hinterlassen hat? «Ich weiss nicht mal, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird», sagt sie. «Ich esse seit zwölf Monaten vor allem aus Konserven», fährt sie fort. «Ich weiss, das ist ungesund für mich und mein Kind, aber es gibt nichts anderes.» Das wenige Gemüse, das noch auf Märkten zu finden ist, können sich viele nicht mehr leisten. Samih und ihre Familie kochen mit Feuerholz, der Rauch mache ihr zu schaffen.

Bereits vier Mal musste sie mit ihrem Mann und den Kindern fliehen, mal zu Fuss, mal auf Eselskarren: von ihrem Zuhause im Flüchtlingslager Maghazi im Zentrum des Gazastreifens nach Rafah in den Süden, von dort nach Nuseirat und schliesslich wieder nach Maghazi. Heute leben sie mit acht anderen Menschen in ihrer halb zerbombten Wohnung. Die zerbrochenen Fenster sind mit Plastikfolie verklebt, in den Wänden klaffen Risse. Den Durchgang zu einem der vollständig eingestürzten Räume hat Samih mit Ziegelsteinen verstellt, um die Kinder zu schützen.

Vor dem Hintergrund der Kämpfe im Libanon und der zunehmenden Eskalation zwischen Israel und dem Iran wird über die humanitäre Krise im Gazastreifen kaum noch berichtet. Entschärft hat sich die Situation aber keineswegs. Noch nie in diesem Krieg kamen weniger Hilfsgüter in den Küstenstreifen als im September. Der Norden wurde laut Hilfsorganisationen für die ersten zwei Oktoberwochen fast vollständig abgeriegelt.

Auch nach der Tötung des Hamas-Anführers Jahja Sinwar am 16. Oktober lassen die israelischen Angriffe nicht nach. Bei einem Luftangriff auf ein Wohnhaus in Nordgaza starben am Samstag Dutzende von Menschen. US-Präsident Joe Biden drohte der israelischen Führung kurz vor dem Ende seiner Amtszeit, die US-Waffenlieferungen auf den Prüfstand zu stellen, wenn sich die humanitäre Katastrophe nicht entschärfe.

Kaiserschnitte ohne Betäubung

Während sich in gigantischen Zeltstädten im Zentrum des Gazastreifens Hunderttausende dicht an dicht zusammendrängen, haben Mediziner:innen kaum mehr Möglichkeiten, ihre Mitmenschen zu versorgen. 17 von einst 36 Spitälern funktionieren laut der Weltgesundheitsorganisation WHO noch teilweise. Sie sind hoffnungslos überfüllt und schlecht erreichbar, ebenso wie elf provisorische Feldlazarette. Das Gleiche gilt für die Erstversorgungszentren, von denen fast zwei Drittel geschlossen sind.

Anfang Oktober wurden weite Teile von Nordgaza zum wiederholten Mal zu Evakuierungszonen erklärt. Seitdem rückt die israelische Armee in die noch immer bewohnte Trümmerwüste vor. Laut der Uno hielten sich zuletzt noch 400 000 Menschen im Norden des Küstenstreifens auf. Viele wurden bereits mehrfach vertrieben und wollen oder können nicht erneut fliehen. Am 18. Oktober gerieten laut dem Uno-Nothilfebüro Ocha zwei von drei noch verbleibenden Spitälern nördlich von Gaza Stadt unter israelischen Beschuss.

Krankheiten breiten sich aus, von denen laut der Uno überdurchschnittlich häufig Frauen und Kinder betroffen sind. Besonders schwer trifft es die geschätzt 155 000 Schwangeren und stillenden Mütter. «Ich finde keine Worte», sagt die Hebamme Flor Francisconi. «Nichts, was ich sage, könnte beschreiben, wie es ist, bei einer Geburt im Kreisssaal zu stehen, während draussen Bomben einschlagen.»

Die 37-jährige Argentinierin arbeitet seit sechs Jahren als Hebamme für die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Seit rund zwei Monaten ist sie im Nasser-Spital in der südlich gelegenen Stadt Chan Junis. «Ich sehe die Erschöpfung der Frauen schon, wenn sie ankommen, in ihren Gesichtern und an der Art, wie sie sich bewegen.» Fast alle seien im vergangenen Jahr mehrfach vertrieben worden, viele hätten Angehörige verloren.

Das hat Folgen: Laut einer Erhebung der Vereinten Nationen sind die Komplikationen während der Schwangerschaft, der Geburt und danach gestiegen. Neun von zehn Frauen litten an Harnwegsinfekten, 76 Prozent an Blutarmut, 28 Prozent hatten vorzeitig Wehen, fast die Hälfte Bluthochdruck. Mehr als jede zehnte Schwangerschaft ende mit einer Totgeburt.

«Ich fürchte mich davor, mit Wehen in ein halb zerstörtes Spital zu gehen», sagt Samih. Eine Freundin in Gaza Stadt, wo die Versorgung noch dürftiger ist als in Chan Junis, habe zu Hause gebären müssen. Die Nachbarinnen hätten eine nach der anderen ihre Telefone als Taschenlampen gehalten, bis die Akkus leer waren. Die Stromversorgung ist in weiten Teilen des Küstenstreifens ausgefallen. Viele kämen zumindest für die Geburt in die Klinik, sagt Francisconi. Etwa 650 Kinder kämen im Nasser-Spital aktuell pro Monat zur Welt. 80 bis 90 per Kaiserschnitt, oft ohne Betäubungsmittel.

Mindestens für einen Tag sollten die Frauen danach zur Beobachtung bleiben – theoretisch. «Die meisten kommen nur für etwa sechs Stunden», sagt Francisconi. «Sie haben zu viel Angst, dass ihren Familien etwas zustösst, während sie im Spital sind.» Danach würden viele Mütter mit Geburtsverletzungen und Kaiserschnittwunden zurück in die Zelte ziehen. «Dort gibt es bei tagsüber brütender Hitze in der Regel kein fliessendes Wasser, keine Seife und oft nicht einmal ein Bett», sagt Francisconi, deren Arbeitsweg regelmässig durch die Zeltlager führt. Nun steht der Herbst mit oft heftigen Regenfällen bevor.

Ihre Babys zu stillen, sei für die unterernährten und dehydrierten Mütter eine weitere Herausforderung. Viele würden bald nach der Geburt wieder in die Spitäler kommen. «Die Babys haben Gelbfieber oder Hautausschläge, weil die Eltern die Windeln mehrmals benutzen müssen.» Hinzu kommen die heute noch nicht sichtbaren Folgen für eine ganze Generation Neugeborener. «Der Stress und die ständige Anspannung können sich auf die psychische Gesundheit und die gesunde Entwicklung auswirken», sagt Francisconi.

Die Bilder bleiben real

Der Krieg geht indes weiter. Seit Wochen greift die israelische Armee ehemalige Schulen an, die zu Unterkünften für Zehntausende von Vertriebenen geworden sind. Auch die erklärten Schutzzonen sind nicht sicher. Bei einem Luftangriff auf ein Zeltlager im Hof des Al-Aksa-Spitals in Deir al-Balah starben zuletzt vier Menschen, Dutzende erlitten schwere Verbrennungen, als sich ein Feuer ausbreitete. Schlagzeilen ruft das angesichts der eskalierten Kämpfe mit der Hisbollah und der zynischen Gewöhnung an diesen Krieg kaum noch hervor.

Die Zahlen lassen sich nicht unabhängig bestätigen, ebenso wenig wie der Wahrheitsgehalt der immer gleich lautenden israelischen Rechtfertigung, man habe ein weiteres «Kommandozentrum» zerschlagen. Was dieser Begriff bedeuten soll, bleibt unklar. Genauso ritualisiert und ohne Nachweise dementiert die Hamas jeden Vorwurf, aus ziviler Infrastruktur heraus zu operieren. Real bleiben die Bilder, die online auftauchen: schlaffe Kinderkörper mit abgerissenen Gliedmassen in den Armen von Ersthelfer:innen oder, wie vergangene Woche, die letzten Momente eines neunzehnjährigen Informatikstudenten in den Flammen seines brennenden Zelts.

Die palästinensischen Ärztinnen und Pfleger müssen weiterarbeiten, obwohl sie immer wieder selbst zu Zielen werden. Auch sie wohnen mit ihren Familien in Zelten und Notunterkünften. Rund 900 im Gesundheitssystem Beschäftigte wurden laut dem von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministerium seit Kriegsbeginn getötet. Viele ihrer Kolleg:innen hätten Angehörige verloren, sagt Francisconi. «Trotzdem sind die meisten schon am Tag darauf wieder ins Spital gekommen.»

Zwei von ihnen sind der Arzt Majed Jaber in Chan Junis und der Medizinstudent Ezzedin Lulu im Norden Gazas. Lulu volontiert in der im August wiedereröffneten Notaufnahme im grösstenteils zerstörten Al-Schifa-Spital in Gaza Stadt. «Ich habe schon im Oktober 2023 angefangen, als Freiwilliger in Al-Schifa zu arbeiten, weil es dort zu wenig Personal gab», sagt er am Telefon. Der Medizinstudent war plötzlich mit Amputationen, Verbrennungen und zerschmetterten Gliedmassen konfrontiert. «Dinge, die ich in keinem Lehrbuch gesehen hatte», sagt er. Am 13. November klingelte Lulus Handy. Während die israelische Armee das Spital belagerte, wurde das Haus seiner Familie bombardiert. «Nur meine Mutter hat überlebt», sagt der 23-Jährige. Sein Vater, seine Geschwister und deren Kinder wurden getötet. «Ich finde bis heute keine Worte für mein Gefühl in diesen Tagen», sagt er.

«Als Ärzte müssen wir weitermachen», sagt Jaber am Telefon aus Chan Junis. «Wenn wir es nicht tun, sterben noch mehr Menschen.» Seine fehlende Erfahrung macht dem 25-Jährigen zu schaffen. «Menschen zu verlieren, weil ich nicht helfen konnte oder Fehler mache, diese Verantwortung ist schwer zu ertragen.»

Krankheiten grassieren

Doch für viele Patient:innen könne er kaum etwas tun, sagt Jaber: «Kinder sterben wegen Hautkrankheiten, die sich entzünden und zu Blutvergiftungen führen. Wir haben nicht die Medikamente, um ihnen zu helfen.» Der Vizedirektor des Uno-Kinderhilfswerks Unicef forderte nach einem Besuch in Gaza im September, mehr Lieferungen von Medikamenten und medizinischem Material zu ermöglichen. Von sechs WHO-Missionen Mitte September in den Norden des Küstenstreifens ermöglichte die israelische Armee nur eine, untersagte zwei und behinderte drei.

«Gaza ist die perfekte Petrischale für infektiöse Krankheiten», sagt Jaber in einem seiner Onlinevideos, in denen der Arzt über seine tägliche Arbeit spricht. Längst haben sich Durchfallerkrankungen, Hepatitis und eine Reihe weiterer Krankheiten ausgebreitet. Im August gab es im Gazastreifen erstmals seit 25 Jahren wieder Fälle von Polio, auch als Kinderlähmung bekannt. Das aber sei letztlich nur ein Symptom des grösseren Problems, «der Zerstörung der Infrastruktur, des Mangels an Hygiene angesichts wachsender Abfallberge und ungeklärter Abwässer in den Strassen. Die Kinder leben in Flüchtlingslagern, trinken das verschmutzte Wasser, spielen im Schlamm.» Die ständigen Evakuierungsaufforderungen der israelischen Armee würden das Übrige tun, um Krankheiten weiter zu verbreiten. Es gebe Intensivpatient:innen mit offenbar multiresistenten Keimen, die nicht mehr auf Antibiotika reagierten.

«Die Folgen dessen, was in Gaza passiert, bleiben nicht auf Gaza beschränkt», warnt Jaber. Das leuchtete wohl auch der israelischen Führung ein. Eine von der Uno geführte Impfkampagne gegen Polio konnte während begrenzter Feuerpausen im September 560 000 Kinder unter zehn Jahren im gesamten Gazastreifen erreichen; das entspricht rund neunzig Prozent. Die zweite Runde begann vergangene Woche.

Die erfolgreiche Einfuhr und Verteilung der Impfstoffe zeigt, dass die menschengemachte humanitäre Katastrophe jederzeit beendet werden könnte. Die israelische Führung aber scheint trotz der Tötung des Hamas-Anführers Sinwar und des Drucks aus den USA weiter an ihrer Blockadetaktik festzuhalten.