Lohnverhandlungen: «Das gibt richtig Ärger»
Die Wirtschaft brummt, doch die Kaufkraft schwindet. Deshalb müssten Löhne und Renten deutlich rauf, fordert Daniel Lampart, Chefökonom des Gewerkschaftsbunds. Ansonsten komme es zu Kampfmassnahmen.
WOZ: Daniel Lampart, mit welchem Gefühl gehen Sie in die anstehenden Lohnverhandlungen?
Daniel Lampart: Wir sind in einer Situation, wie wir sie seit dreissig Jahren nicht mehr hatten. Die Teuerung liegt bei fast 3,5 Prozent. Hinzu kommt der Prämienschock – wir hören, dass einzelne Krankenkassen zehn Prozent raufgehen wollen. Gleichzeitig läuft die Wirtschaft gut. Das ist im Unterschied zur Nullteuerung der letzten zehn Jahre eine komplett neue Ausgangslage. Deshalb ist jetzt schon klar: Es wird rumpeln.
Wie viel mehr Lohn fordern Sie?
Für den Gewerkschaftsbund ist der Teuerungsausgleich gesetzt. Darüber hinaus verlangen wir eine Reallohnerhöhung. Einerseits, weil die Produktivität gestiegen ist, aber auch, weil zwischen 2016 und 2022 die Lohnentwicklung für Leute mit tiefen und mittleren Einkommen unbefriedigend war. Sie haben heute aufgrund der Teuerung tiefere Löhne als vor sechs Jahren. Ganz anders verlief die Entwicklung bei den Topverdienern, die Lohnschere ging wieder auf. Als hätte es keine Abzockerdebatte gegeben.
Das Rumpeln ist jetzt schon deutlich zu hören. Arbeitgeberchef Valentin Vogt warf den Gewerkschaften vor, sie würden viel Lärm machen, um ihre Mitglieder bei der Stange zu halten. Wie wollen Sie bei Vogt durchdringen?
Auch Vogt kann die Zahlen nicht ändern. Alle wissen, wie die Wirtschaftslage ist und wie gerade die Kaufkraft schwindet, auch der Arbeitgeberverband. Dass am Anfang der Verhandlungen eine Rezession prognostiziert wird, ist fast schon ein Naturgesetz: Die Wirtschaft wird schlechtgeredet, das ist nichts Neues. Nun braucht es Lohnerhöhungen für alle – insbesondere wegen der Teuerung. In den Jahren der Nullteuerung reichte es, den Lohn zu halten, um reale Einbussen zu verhindern.
Ihr Präsident Pierre-Yves Maillard warnte doch in der «SonntagsZeitung» vor einer «brutalen Rezession». Warum schwächt der SGB die Forderung nach höheren Löhnen gleich selber?
Der Schweizer Wirtschaft geht es gut. In den USA, teilweise auch in Europa stellen wir aber fest, dass sich das Wachstum abschwächt. Was nicht erstaunen kann angesichts nur schwach steigender Löhne und hoher Teuerung. Der Konsum beginnt zu lahmen. Dazu kommt die Energieversorgungskrise, die schwierig werden kann. Das ist aber kein Problem der Nachfrage. Unerfreulich ist die Geldpolitik der Zentralbanken, dass etwa die Schweizerische Nationalbank jetzt den Franken aufwertet. Die Rezession wird am besten dadurch verhindert, dass die Löhne mit den Preisen Schritt halten. Und die Unternehmen haben Spielraum für Lohnerhöhungen.
Schon der Teuerungsausgleich dürfte schwierig zu erreichen sein, weil der dazu nötige Lohnanstieg recht heftig ausfallen würde.
Es sind höhere Zahlen, als wir es gewohnt sind. Allerdings hatte die Schweiz auch in den achtziger und den neunziger Jahren eine starke Teuerung. Damals konnten die Gewerkschaften Lohnerhöhungen von fünf, sechs Prozent durchsetzen.
Heute ist die Teuerung in der Schweiz im europäischen Umfeld noch bescheiden …
Weil in der Schweiz noch vieles zum Service public gehört, was in anderen Ländern längst liberalisiert worden ist. Beispielsweise beim Strom, wo in Frankreich und Deutschland die Preise um ein Vielfaches gestiegen sind im Gegensatz zur Schweiz. Der Grund ist ganz einfach: Sie haben den Strommarkt geöffnet, und wir profitieren von den regulierten Preisen in der Grundversorgung.
Der Angestelltenverband Travailsuisse fordert drei Prozent Lohnanstieg. Das entspricht kaum dem Teuerungsausgleich. Ist das für Sie eine mutige Forderung?
Wir werden unsere Forderung Anfang September präsentieren. Unser Ziel ist eine Reallohnerhöhung. Die ist auch nötig, um die steigenden Krankenkassenprämien aufzufangen. Vor allem Rentnerinnen und Rentner werden deutlich weniger zum Leben haben, wir rechnen für das Jahr 2024 mit Einbussen von bis zu einem Monat AHV-Rente. Denn die Renten werden zwar der Teuerung angepasst, aber nur stark verzögert. Und die Pensionskasse wird gar nicht angeglichen. Das hat krasse Auswirkungen.
Die Reallöhne sind in den letzten Jahren tatsächlich gesunken. Trotzdem vermelden die Gewerkschaften nach den Lohnverhandlungen jeweils, sie seien mit dem Ergebnis zufrieden. Wie passt das zusammen?
Schauen wir die jüngere Geschichte an. Bis 2015 hat sich die Situation bei den unteren Löhnen verbessert, damals lief die Mindestlohnkampagne. Auch die mittleren Löhne sind ordentlich gestiegen. In den letzten Jahren haben wir auch bei den Löhnen der Frauen gut aufgeholt. Wir sind noch nicht dort, wo wir hinwollen. Doch ohne den Einsatz der Gewerkschaften wären wir noch viel weiter davon entfernt. In Deutschland und Grossbritannien sind die Tieflöhne sogar gesunken, in Frankreich hat sich auch nicht viel getan. Bei uns sind die tiefen Löhne gestiegen. Wenn wir auf Löhne und die Kaufkraft fokussieren, können wir viel erreichen. Aber es ist klar: Wir müssen voll dahinter, sonst erreichen wir die Ziele nicht.
Die Erfolge, die Sie aufzählen, zeigen doch gerade, dass diese Verhandlungsrunden ohne Begleitkampagne wenig bringen. Braucht es eine Erweiterung des Kampffeldes?
Zunächst müssen wir gut verhandeln. Aber wenn es nicht weitergeht, mobilisieren wir. Ich war beeindruckt von der riesigen Baudemo in Zürich Ende Juni. Da hat man gesehen, zu was wir fähig sind. Wir dürfen Kampfmassnahmen nicht ausschliessen.
Was wäre für Sie eine harte Reaktion, sollten die Verhandlungen scheitern?
Wir gehen davon aus, dass wir höhere Löhne aushandeln. Bei einem Scheitern der Verhandlungen werden wir entsprechende Massnahmen ergreifen. Das Repertoire ist gross – von Aktionen, Demonstrationen, längeren Pausen bis zu Streiks. Über die einzelnen Aktionen müssen aber die Leute in den Branchen entscheiden.
In welchen Branchen steckt am meisten Konfliktpotenzial?
Am meisten Signalcharakter hat der Bau. Wenn dort der GAV erneuert wird, so wie gerade jetzt, schafft das eine hohe Medienpräsenz. Auch an den Flughäfen und in den Kabinen der Flugzeuge brodelt es. Da laufen jetzt Verhandlungen. Was die Swiss derzeit macht, ist skandalös. Sie heuert über sogenannte Wetlease-Verträge Flugzeuge und Crews von Air Baltic an, wo das Personal zu Dumpinglöhnen arbeitet. Meine Prognose: Das gibt richtig Ärger.
Welchen Effekt auf die Verhandlungen hat der viel beschworene Fachkräftemangel? Im Gastgewerbe führte der akute Personalmangel immerhin zu einer Lohnverbesserung über den Teuerungsausgleich hinaus.
Das finde ich natürlich super, wenn die Arbeitgeber das Gefühl haben, es gebe einen Fachkräftemangel. Im historischen Vergleich relativiert sich diese Betrachtung. Bei der letzten Teuerungsphase Ende der achtziger Jahre konnte man in eine beliebige Firma reinlaufen, und es wurde einem ein Job angeboten. So weit sind wir heute nicht. Aber es ist offensichtlich so, dass Firmen gewisse Schwierigkeiten haben, Personal zu finden. Einer Gewerkschaft kann nichts Besseres passieren. Das stärkt die Verhandlungsposition der Angestellten.
Sozialpolitisch stehen viele wichtige Entscheidungen an, nicht nur bei den Löhnen. Plötzlich ist im Parlament eine Entlastung bei den Krankenkassenprämien möglich, dazu kommt der geplante Teuerungsausgleich auf AHV-Renten. Bricht das bürgerliche Bollwerk in Bern auf?
Die Prämieninitiative der SP kommt genau zum richtigen Zeitpunkt. Auch deshalb konnte man im Nationalrat einen Gegenvorschlag herausschlagen, der 2,2 Milliarden Franken zusätzlich für die Subvention der Krankenkassenprämien bringt. Nun muss der Ständerat zustimmen. Die Belastung ist für viele Leute mittlerweile unerträglich. Das wird immer schöngeredet. Aber wir haben Prämienbelastungen von bis zu fünfzehn Prozent des Haushaltseinkommens. Vor allem für Haushalte mit mittleren Einkommen ist es extrem. Viele Kantone haben die Prämienverbilligungen zurückgefahren und dafür die Steuern gesenkt. Das ist unfassbar. Der Handlungsbedarf ist enorm.
Der zweite Glückstreffer ist unsere Initiative für eine 13. AHV-Rente. Auch die kommt genau zum richtigen Zeitpunkt. Damit können die unteren und die mittleren Einkommen zumindest ihre Einbussen kompensieren.
Zugleich kommen aus dem Parlament immer neue Projekte, um Steuern zu senken.
Das ist ein Riesenskandal. Es gab eine Kette an gewonnenen Referenden in der Steuerpolitik. Erst scheiterte die Unternehmenssteuerreform III im ersten Anlauf, dann die zusätzlichen Kinderabzüge, die Stempelsteuer. Trotzdem soll jetzt die Verrechnungssteuer abgeschafft werden. Dass sich das Parlament so über demokratische Entscheidungen – die klar und deutlich waren – hinwegsetzt, ist etwas völlig Neuartiges. Und die Pipeline ist immer noch voll! Als Nächstes kommen neue Steuerabzüge für die dritte Säule, dann der Steuerabzug für Krankenkassenprämien. Dann wollen die Bürgerlichen die Tonnagetax einführen, um Reedereien zu begünstigen – es hört nicht auf! Und jetzt wollen sie auch noch den Eigenmietwert abschaffen, was Vermögende um Milliarden begünstigen würde.
Kann von der Abstimmung am 25. September eine Signalwirkung ausgehen?
Wenn wir die AHV und die Verrechnungssteuer gewinnen, wird sich die Politik in Bundesbern sozialer ausrichten müssen. Das heisst: Schluss mit den Steuersenkungen für Leute, die es nicht nötig haben, dafür aber höhere Prämienverbilligungen und Renten. Die Chancen sind intakt, wenn wir uns dafür engagieren. Wenn die AHV 21 durchkommt, wird der Bundesrat eine Rentenaltererhöhung vorschlagen. In die Richtung der Jungfreisinnigen – also in Richtung Rentenalter 67.
Kommt die AHV-Reform durch, heisst das doch, die Leute sind mittlerweile bereit, eine Schlechterstellung zu akzeptieren. Da startet Ihre Offensive mit wenig Rückenwind.
Nein. Eine Zustimmung zur Reform gibt es nur gegen die betroffenen Frauen. Daher wird die Mobilisierung das Rennen entscheiden; zum heutigen Zeitpunkt ist es noch offen. Wenn ich schaue, was in den Zeitungen der grossen Zürcher Verlagshäuser steht, könnte man meinen, die Reform sei schon durch. Bei den Angestellten, die auf die AHV angewiesen sind, klingt das anders.
Der SGB-Chefökonom
In jungen Jahren arbeitete Daniel Lampart auf dem Bau, als Hilfsmaler oder Hilfselektriker. Später studierte der Luzerner erst Philosophie, dann Volkswirtschaftslehre – schliesslich doktorierte er in Wirtschaftsgeschichte. 2006 wurde Lampart Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB). Seit 2011 leitet der heute 54-Jährige auch das Zentralsekretariat des SGB.