Löhne, Inflation, AHV: «Die Leute merken, dass ihre Kaufkraft schwindet»
Sich über Fachkräftemangel zu beklagen, sei zynisch, sagt VPOD-Generalsekretärin Natascha Wey. Und kündigt an: Der Kampf ihrer Gewerkschaft werde dieses Jahr konfrontativer sein.
WOZ: Natascha Wey, der Lohnherbst steht an, dann folgen Wahlen und gleich drei Abstimmungen zur Altersvorsorge. Was überwiegt bei Ihnen: die Furcht vor Rückschritten oder Zuversicht?
Natascha Wey: Ich befürchte keine Rückschläge. Die letzten Monate haben mir gezeigt, dass die Leute ihre soziale Situation nicht mehr einfach so hinnehmen: Als sich der Kanton Waadt weigerte, seinen Angestellten die volle Inflation auszugleichen, haben Beschäftigte in der Bildung und der Verwaltung an mehreren Tagen gestreikt. Kürzlich legte das öffentliche Personal des Flughafens Genf den Betrieb einen ganzen Tag lang lahm – so etwas hatte ich noch nie erlebt. Der Verwaltungsrat ist sofort eingeknickt.
Die Löhne sind letztes Jahr real – also nach Abzug der Teuerung – um 1,9 Prozent gesunken, im Jahr zuvor um 0,8 Prozent. Trotz sinkender Inflation sieht es auch für dieses Jahr nicht rosig aus. Wie wollen Sie verhindern, dass sich das 2024 wiederholt?
Im öffentlichen Dienst, in dem wir die Angestellten vertreten, kommen uns die kantonalen Budgets in die Quere: Sobald diese feststehen, haben wir jeweils keinen grossen Verhandlungsspielraum mehr. Wir werden unsere Forderungen deshalb dieses Jahr früher stellen. Und für den 16. September haben wir eine grosse Kaufkraftdemo in Bern angesagt, die von einer breiten linken Allianz getragen wird. Die Löhne sind ja nicht das einzige Problem. Die Mieten steigen, ebenso die Krankenkassenprämien. Wir werden dieses Jahr konfrontativer sein.
Was heisst das konkret?
Viele Angestellte, etwa in den Spitälern oder Kitas, fühlen sich gegenüber ihrem Arbeitgeber in der Verantwortung. Dabei ist es nicht ihre Aufgabe, das Geld für ihre Löhne zu besorgen. Sie müssen ihre Forderungen stellen – die entsprechenden Mittel zu beschaffen, ist dann Sache der Arbeitgeber. Und die haben Spielraum: Die Kantone hatten für 2022 ein kumuliertes Defizit von 1,2 Milliarden Franken budgetiert und entsprechend behauptet, es fehle das Geld. Am Ende resultierte ein Überschuss von 3,3 Milliarden. Es ist immer wieder das gleiche Spiel. Dass wir überhaupt einen Teuerungsausgleich fordern müssen, ist eine Frechheit. Er sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein.
Sie fordern für 2024 aber nicht nur einen Teuerungsausgleich …
Nein, wir verlangen, dass die bisherigen Reallohnverluste kompensiert werden, die künftige Inflation ausgeglichen wird – und die Löhne auch darüber hinaus erhöht werden, dass sie also auch real steigen.
Die Arbeitgeberseite beklagt einen Fachkräftemangel. In dieser Situation sollte es theoretisch einfach sein, Lohnerhöhungen zu erkämpfen.
Pflegefachpersonen erhalten dann einen besseren Lohn, wenn sie kündigen und anderswo einen neuen Job annehmen. Ansonsten rechnen die Arbeitgeber damit, dass sie auch ohne Lohnerhöhungen bleiben – im Wissen, dass die Leute im Gesundheitswesen ein sehr hohes Verantwortungsbewusstsein gegenüber ihren Patient:innen haben. Sie zahlen nur mehr, wenn sie Arbeitskräfte rekrutieren, weil sie sonst niemanden finden. Dieser Fachkräftemangel ist auch hausgemacht.
Wie meinen Sie das?
Wenn Sie in einer Kita eine Lehre mit einem Einstiegslohn von 4200 Franken machen, ohne Aussicht auf wirklich mehr, ist es nur logisch, dass Sie sich nach zwei, drei Jahren einen anderen Job suchen – zumal die Arbeit extrem anstrengend ist. Ähnliches gilt für Pfleger:innen: Die Stimmbevölkerung hat vor knapp zwei Jahren der Pflegeinitiative zugestimmt. Doch jener Teil der Umsetzung, der die Arbeitsbedingungen betrifft, geht erst Anfang nächstes Jahr in die Vernehmlassung – wir sind also noch nirgends. Obwohl seit der Pandemie ständig Leute aussteigen, weil sie ausgebrannt sind. Sich dann über einen Fachkräftemangel zu beklagen, ist zynisch.
Dabei wurde die Annahme der Pflegeinitiative eineinhalb Jahre nach Ausbruch der Coronapandemie als grosser Erfolg gefeiert.
Ja, das war sie auch. Doch im Moment spüre ich bei den Beschäftigten eher Ernüchterung. Die Verschleppung der Initiative führt zu einer Politikverdrossenheit. Gleichzeitig führt sie den Leuten vor Augen, dass man nicht alles an die Politik delegieren kann. Sie müssen die Sache selber in die Hand nehmen und sich die Lohnerhöhungen erkämpfen.
Merken Sie angesichts der desolaten Lage in Spitälern keine Bereitschaft vonseiten der Kantone, bessere Arbeitsbedingungen zu bieten? Kinder warten teilweise auch mit entzündetem Blinddarm Stunden auf eine Operation …
Auch mein Kind musste mit gebrochenem Arm acht Stunden auf eine Behandlung warten, die Belegschaft war völlig überlastet. Dieses Thema wird an Bedeutung gewinnen; derzeit spüren wir davon aber noch wenig. Bewegung beobachten wir beim Ausbau der Kinderbetreuung. Allerdings wird hier vor allem gefordert, dass alle Eltern Anspruch auf einen subventionierten Kitaplatz erhalten sollen. Das ist wichtig, es erhöht die Erwerbsquote der Frauen. Aber die Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten werden damit nicht besser. Wir fordern, dass ein guter Teil der zusätzlichen Mittel in die Löhne fliessen muss. Schlechte Arbeitsbedingungen, die zu Personalmangel führen, führen im Übrigen auch zu einer qualitativ schlechteren Betreuung der Kinder – auch das wurde bis jetzt noch nicht überall verstanden.
Die politische Diskussion dreht sich vor allem um genug Kitaplätze, weil die Arbeitgeber wollen, dass alle möglichst hundert Prozent arbeiten.
Ja, das gibt uns eine gewisse Verhandlungsmacht, dank derer nach jahrzehntelangem Stillstand endlich etwas in Bewegung kommt. Wer Kinder hat, weiss aber: Es ist kaum möglich, dass beide nahezu hundert Prozent arbeiten, ohne an den Anschlag zu gelangen. Es gibt derzeit eine klare Tendenz in Richtung kürzere Arbeitszeiten. Die bürgerlich regierte Gemeinde Affoltern am Albis hat ihre Vollzeitarbeitspensen um 4 auf 38 Stunden gesenkt. Die Arbeitgeber können die junge Generation schon beschimpfen und ihr vorwerfen, dass sie nicht arbeiten wolle. Am Ende werden sie jedoch die neue Realität akzeptieren müssen. Die Kampagne gegen die angeblich schädliche Teilzeitarbeit ist eine erwartbare, nicht sehr fantasievolle Art, auf diese Entwicklung zu reagieren.
Im Frühling kommt die Reform der zweiten Säule an die Urne. Die Gewerkschaften haben das Referendum ergriffen. Warum? Die Frauenorganisation Alliance F ist zum Beispiel dafür …
Wir hatten ursprünglich mit dem Arbeitgeberverband einen Kompromiss für eine Reform gefunden. Zwar wäre damit auch der Umwandlungssatz, der die Höhe der Renten bestimmt, um 0,8 auf 6 Prozent gesunken. Doch der Kompromiss hätte benachteiligte Menschen, die in ihrem Leben wenig verdient haben – insbesondere Frauen –, dafür kompensiert. Er wurde im Parlament jedoch völlig zerzaust – was auch die bedenkliche Schwäche des Arbeitgeberverbands innerhalb des bürgerlichen Lagers offenlegt. Mit der jetzt vorliegenden Reform müssen tiefe und mittlere Einkommen mehr für eine gleich hohe oder sogar schlechtere Rente bezahlen. Das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt einfach nicht.
Abgestimmt wird auch über die Gewerkschaftsinitiative für eine 13. AHV-Rente. Warum braucht es die?
Die Entwicklung der Renten hinkt jener der Löhne seit Jahren hinterher. Rentner:innen, die in unserer Gewerkschaft engagiert sind, empören sich zu Recht darüber. Mit der 13. AHV-Rente wird ein Teil der gestiegenen Lebenshaltungskosten für die Rentner:innen ausgeglichen. Das war früher ganz normal, heute müssen wir dafür kämpfen.
Laut einer Umfrage würden heute zwei Drittel der Stimmbürger:innen Ja sagen. Sobald die Rechte jedoch mit der Warnung kommt, dass das zu viel koste, wird die Zustimmung sinken …
Die Leute sehen, dass es sich lohnt, die AHV zu stärken. Sie bietet insbesondere für tiefe Einkommen ein viel besseres Preis-Leistungs-Verhältnis als die Berufsvorsorge. Es geht kein Geld an irgendwelche komischen Broker, und es gibt keine Privatversicherer, die riesige Gewinne auf Kosten der Versicherten abziehen. Das kann man den Leuten einfach aufzeigen. Ich bin da sehr zuversichtlich.
Davor sind noch Wahlen. Die SVP versucht, das Thema Migration in den Vordergrund zu rücken. Wie wollen die Gewerkschaften ihre Themen platzieren?
Das macht die SVP ja seit dreissig Jahren. Neu ist ein nochmals viel krasserer antilinker Reflex, den man auch bei vielen Medien spürt. Wir kommen mit unseren Themen in den Redaktionen auch weniger durch. Vor zwanzig Jahren kamen die Journalist:innen noch an unsere Delegiertenversammlung, heute ist das nicht mehr der Fall. Wir müssen viel mehr Erklärungsarbeit leisten – zum Beispiel aufzeigen, warum den Menschen ein Teuerungsausgleich zusteht. Doch die Leute in der Schweiz wollen Antworten: Sie merken, dass ihre Kaufkraft schwindet. Eine solche Situation hatten wir seit Jahrzehnten nicht mehr.
Natascha Wey (41) ist seit 2022 Generalsekretärin des VPOD, der Gewerkschaft der Angestellten im öffentlichen Dienst.
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