Die soziale Frage: FDP und SVP auf Autopilot

Nr. 37 –

Zahlreiche Organisationen rufen für Samstag zu einer grossen «Kaufkraft-Demo» nach Bern. Denn egal, ob bei Mieten, Krankenkassenprämien oder AHV: Die bürgerliche Mehrheit im Parlament hat alle Entlastungen verhindert.

Illustration: Farbstifte mit den Namen der Schweizer Parteien

Es ist ein Rätsel, über das wenig diskutiert wird: Zwar ist die SVP wie die FDP eine Partei der Reichen, wie das jüngste SRG-Wahlbarometer bestätigt – beide Parteien könnten je 27 Prozent der Stimmen jener Leute holen, die über 10 000 Franken pro Monat verdienen. Zugleich überzeugt die SVP aber auch 31 Prozent der Menschen mit den tiefsten Einkommen. Ganz anders verhält es sich mit der FDP, die nur gerade einmal 11 Prozent der Leute in dieser Einkommensschicht anspricht.

Dabei ist der Wirtschaftskurs der beiden Parteien nahezu identisch, wie auch ihre jüngsten Entscheide im Parlament zur schwindenden Kaufkraft zeigen (vgl. weiter unten): Sie sind gegen höhere Prämienverbilligungen, gegen Mietzinskontrollen, gegen einen vollen AHV-Teuerungsausgleich, gegen kantonale Mindestlöhne – aber für die Tonnagetax, ein neues Steuerprivileg für Rohstoffkonzerne. Man könnte beinahe jede wirtschaftspolitische Vorlage der letzten Jahre nehmen: FDP und SVP politisieren auf Autopilot.

Die Lösung des Rätsels? In kaum einem anderen Land ist der Glaube, dass eine Politik für die Reichen am Ende immer auch Ärmeren dient, so stark verankert wie in der tief bürgerlichen Schweiz. Zudem verfolgt die SVP ihre Wirtschaftspolitik ganz leise, ohne viel darüber zu reden. Vor allem aber hat es die Partei geschafft, für beinahe jedes Problem die Zuwanderung verantwortlich zu machen. Es ist wie bei diesem Witz, in dem einer mit einem Teller voller Kekse am Küchentisch sitzt, und sein Gegenüber, der nur Krümel vor sich hat, warnt, die Dritte mit dem leeren Teller nebenan wolle ihm seine Krümel klauen.

Sozialpolitik als Kernfrage

Vor diesen Wahlen ist die Lage aber auch für die SVP schwieriger: Während etwa Rohstoffkonzerne und Banken Rekordprofite vermelden, sind die Reallöhne angesichts der Inflation wegen zu tiefer Lohnerhöhungen zwei Jahre nacheinander gesunken. Nicht nur die Mieten steigen, sondern auch die Lebenshaltungskosten sowie die Krankenkassenprämien. Deshalb rufen Gewerkschaften, SP, Grüne und weitere Organisationen für diesen Samstag zu einer Demonstration in Bern für mehr Kaufkraft auf. Die soziale Frage steht auf einmal im Zentrum des diesjährigen Wahlkampfs.

Zusammen mit anderen hat die SVP einige für sie unpopuläre Geschäfte wie die UBS-Regulierung oder die Berufsvorsorge auf die Zeit nach den Wahlen hinausgezögert. Ganz zur Krise der Kaufkraft schweigen kann sie aber nicht. Den Anfang machte die Zürcher SVP-Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli, die im Wissen um die Last der Krankenkassenprämien das Versicherungsobligatorium infrage stellte. Der versuchte Tabubruch verpuffte, selbst ihre Parteikolleg:innen mochten bei diesem unsozialen Vorschlag nicht so recht applaudieren. Der Berner SVP-Gesundheitspolitiker Pierre Alain Schnegg reagierte gar mit der linken Idee, einkommensabhängige Prämien einzuführen – was quer zur Parteilinie steht. Und dann hatte auch noch Guy Parmelin ein paar Einfälle. Als Wirtschaftsminister des Landes wusste er allerdings nicht viel mehr, als an die «Eigenverantwortung» zu appellieren und den Menschen nahezulegen, sie sollten doch Fahrgemeinschaften bilden, um Benzingeld zu sparen.

Obwohl Mitte und GLP in Wirtschaftsfragen meistens mit SVP und FDP stimmen, scheinen auch sie seit einiger Zeit zu Kompromissen bereit. Die Mitte-Partei von Präsident Gerhard Pfister, der seit längerem für einen Ausbau des Sozialstaats wirbt, stimmte im Nationalrat zusammen mit SP und Grünen für einen vollen AHV-Teuerungsausgleich oder für Prämienverbilligungen – was die gleiche Mitte-Partei dann allerdings im Ständerat wieder zu versenken half. Die Grünliberalen ihrerseits stellten sich etwa gegen den Vorschlag aus der Mitte, die kantonalen Mindestlöhne auszuhebeln. Und sie haben einen SP-Vorstoss für Mietzinskontrollen unterstützt. Man wird sehen müssen, ob dieser Kurs nach den Wahlen anhält.

Mit Populismus kompensieren

Die FDP zeigt sich derweil immun gegenüber sozialen Anliegen. Einige wie Ignazio Cassis scheinen eher auf das Erfolgsrezept der SVP zu setzen und ihre eiserne Wirtschaftspolitik mit Populismus zu kompensieren: Trotz akuter Medienkrise, die die Demokratie bedroht, rief der FDP-Aussenminister an einer Wahlkampfveranstaltung in die Menge, dass er sich nicht mehr von «idiotischen Artikeln» beeindrucken lasse und ohnehin keine Zeitungen mehr lese.

Fraktionsgrössen im Nationalrat
Fraktionsgrössen im Nationalrat Quelle: parlament.ch, ohne Enthaltungen und Abwesenheiten

Wohnen : Mieten kontrollieren?

Das Bundesamt für Statistik belegt es schwarz auf weiss: Je weniger eine Person verdient, desto stärker wird sie finanziell vom Mietzins belastet. Bei den Einkommen bis 4000 Franken machte die Miete im Jahr 2020 bis zu 35 Prozent der Haushaltsausgaben aus, bei jenen über 12 000 Franken waren es nur noch 12 Prozent. Am stärksten belastet werden Rentner:innen, die alleine leben: mit ein Grund für Altersarmut.

«Die Mieten sind der Kaufkraftkiller Nummer eins», meinte SP-Wirtschaftspolitikerin Jacqueline Badran in der letzten Wintersession im Nationalrat. Wobei die Mieten nicht etwa wegen fehlender Baubewilligungen steigen, wie es der Hauseigentümerverband mantramässig wiederholt, sondern weil die Vermieter:innen die Kostenmiete umgehen, wie sie das Gesetz eigentlich postulieren würde. Mehr als zehn Milliarden zu viel, rechnete Badran vor, würden die Immobilienkonzerne den Mieter:innen jährlich aus der Tasche ziehen. Ihr helvetisch-pragmatischer Vorschlag, bevor man wie in Berlin über die Enteignung nachdenkt: eine Mietzinskontrolle.

Die Antwort der Liberalen Patricia von Falkenstein auf die Forderung war so erwartbar wie die Mietrechnung am Ende des Monats: «Die Bürokratie würde ausgebaut.» Angesichts der gesellschaftlichen Dringlichkeit des Themas war die Debatte äusserst kurz. Auch die Mitte-Fraktion lehnte Badrans Antrag mehrheitlich ab (vgl. Grafik). In den siebziger Jahren hatte sie sich noch entschieden gegen die Abschaffung einer Mietenkontrolle gewehrt. Die damalige Argumentation: Ein Anstieg der Mieten drücke den real verfügbaren Lohn – und mindere die Kaufkraft.

Fraktionsgrössen im Nationalrat: Wohnen (Infografik)

Krankenkassen : Hilfe gegen den Prämienschock?

Dieses Jahr stiegen die Krankenkassenprämien im Schnitt um 6,6 Prozent, 2024 dürfte der Anstieg gemäss letzten Prognosen gar 8 Prozent betragen. Für viele Menschen ist damit die Schmerzgrenze erreicht.

Dazu hätte es nicht kommen müssen. 2022 hatten SP, Grüne und die Mitte-Partei im Nationalrat drei gleichlautenden Vorstössen zugestimmt, die verlangten, dass der Bund die Beiträge an die Prämienverbilligungen für das laufende Jahr um dreissig Prozent anhebt (vgl. Grafik). Im Ständerat wurden die Vorstösse jedoch auch mithilfe etlicher Mitte-Parlamentarier:innen vom Tisch gewischt. Zudem erreichte der St. Galler Mitte-Politiker Benedikt Würth mit einem Antrag, dass der Ständerat nicht auf den Gegenvorschlag zur SP-Initiative eintrat, die die Prämienverbilligungen durch den Bund zusätzlich ausbauen will. Diese Woche lehnte auch der Nationalrat den Gegenvorschlag ab.

Mitte-Ständerat Pirmin Bischof hatte vergeblich gefordert: «Es ist dringend, dass wir jetzt Massnahmen ergreifen, um die inländische Kaufkraft zu schützen.» Die Unterstützung sei finanziell nicht tragbar, behauptete etwa der Luzerner FDP-Ständerat Damian Müller: «Wie Sie alle wissen, sind die Bundesmittel knapp. Eine Erhöhung um dreissig Prozent würde den Bund etwa eine Milliarde Franken zusätzlich kosten. Auch wenn wir eine geringere Erhöhung beschliessen würden, wären die Ausgaben für den Bundeshaushalt ohne Gegenfinanzierung nicht tragbar.» Tragen müssen die Folgen dieser Politik nun die Leute, bei denen die Krankenkassenprämien im Sorgenbarometer ganz oben stehen. Diese Woche beschloss das Parlament dann doch eine Alibi-Aufstockung der Prämienverbilligungsgelder um 350 Millionen Franken.

Fraktionsgrössen im Nationalrat: Krankenkasse (Infografik)

Löhne : Kantonale Mindestlöhne aushebeln?

Demokratie gibt es in der Schweiz nur wahlweise, wie der Kanton Obwalden demonstriert. Mangels Gegenkandidatur wurde Mitte-Ständerat Erich Ettlin jüngst als erster Parlamentarier in diesem Wahljahr in seinem Amt bestätigt: in stiller Wahl, wie schon 2019. Das ist nicht nur demokratie-, sondern auch sozialpolitisch bedenklich: Der Steuerberater, der als Lobbyist neunzehn Firmen vertritt, ritt in der vergangenen Legislatur den schärfsten Angriff auf die Löhne.

Ettlin fordert, dass vom Bund für allgemein verbindlich erklärte Gesamtarbeitsverträge (GAVs) künftig über kantonalen Mindestlöhnen stehen. Mindestlöhne – die oft höher sind als jene, die in den GAVs geregelt sind – würden für nichtig erklärt. Ausgerechnet der überzeugte Föderalist Ettlin greift damit in die Kompetenz der Kantone ein. Kein Wunder, spricht selbst der Bundesrat von einem «staatspolitisch bedenklichen Eingriff».

Dennoch konnte Ettlin einen Erfolg feiern: Äusserst knapp unterstützte im letzten Dezember nach dem Ständerat auch der Nationalrat den Vorstoss (vgl. Grafik). SP, Grüne und GLP wehrten sich geschlossen. Auch neun Politiker:innen von Ettlins eigener Mitte-Partei (darunter Präsident Gerhard Pfister) sowie ein einziger SVP-Vertreter (Jean-Luc Addor aus dem Wallis) waren dagegen.

Dass es die Bevölkerung anders sieht als die rechte Mehrheit im Parlament, zeigten diesen Sommer zwei Abstimmungen in Winterthur und Zürich: Hier wurden sogar städtische Mindestlöhne angenommen. Das Ergebnis war mit rund 65 und 70 Prozent alles andere als knapp. 

Fraktionsgrössen im Nationalrat: Löhne (Infografik)

Kinderbetreuung : Elternunterstützung für Kitas?

Die Schweiz hinkt bei der externen Kinderbetreuung etlichen anderen Ländern mit vergleichbarem Wohlstandsniveau weit hinterher. Und so hat eine Allianz im Parlament eine Initiative ergriffen, damit sich der Bund künftig stärker an den Kosten für die Kitas beteiligt. Die Forderung: Der Bund soll die Betreuungsplätze verbilligen – um einen Betrag von jährlich 710 Millionen Franken pro Jahr.

Nebst der Chancengleichheit unter allen Kindern und der Gleichstellung, mit denen SP, Grüne und auch GLP argumentierten, wurden im Parlament auch die Vorteile für die Firmen hervorgehoben: «Schon heute wird der Fachkräftemangel als das drängendste Problem der Wirtschaft bezeichnet», mahnte Corina Gredig (GLP) im Nationalratssaal. So wie man Strassen zu den Arbeitsplätzen baue, brauche es auch Kitas, damit Mütter vermehrt arbeiten könnten. Auch der Arbeitgeberverband hatte sich für die Reform ausgesprochen.

Und so stimmte der Nationalrat auch für die Vorlage (vgl. Grafik). Insbesondere die SVP stellte sich jedoch dagegen. 710 Millionen Franken seien «enorme» Kosten, so SVP-Nationalrätin Nadja Pieren – «obwohl wir alle wissen, dass der Bund dringend sparen sollte». In der kleinen Kammer sollten Pierens Einwände dann Gehör finden. In der vorberatenden Ständeratskommission stoppten SVP, FDP und Mitte-Partei vor kurzem die Reform. Man wolle andere Finanzierungsmodelle prüfen, heisst es. So wurde auch diese heikle Debatte auf die Zeit nach den Wahlen vertagt.

Fraktionsgrössen im Nationalrat: Kinderbetreuung (Infografik)

 

Steuern : Ein Geschenk an Glencore?

Inzwischen warnt auch Preisüberwacher Stefan Meierhans vor «Gierflation»: Konzerne hätten durch höhere Margen ihre Gewinne gesteigert, was die Bevölkerung mit höheren Preisen bezahle. Eine Steuer auf diese Übergewinne, wie sie Balthasar Glättli (Grüne) vorschlägt, wurde in der Nationalratskommission jedoch von SVP, FDP und Mitte verworfen.

Vielmehr versucht eine bürgerliche Mehrheit, eine Tonnagetax einzuführen (vgl. Grafik): Diese, so freute sich SVP-Mann Thomas Burgherr im Nationalrat, werde «im Besonderen den bedeutsamen Rohstoffsektor in der Schweiz stärken». Mit der Tonnagetax würden nebst Reedereien auch Rohstoffhändler nach der Frachtkapazität ihrer Flotte besteuert, womit sie noch weniger bezahlten. Dabei hat die Rohstoffbranche seit Putins Angriff auf die Ukraine Rekordprofite geschrieben.

Das Ergebnis wären neue Steuerausfälle – die der Bundesrat nicht beziffern kann. Wie SP, Grüne und GLP im Nationalrat warnten, ritzt die Tonnagetax auch die Verfassung, die eine Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit verlangt.

Cédric Wermuth (SP) wies im Rat darauf hin, dass dies von einem Gutachten der Uni Lausanne bestätigt worden sei. Worauf der damalige Finanzminister Ueli Maurer ein zweites Gutachten bestellte; und zwar bei Xavier Oberson von der Uni Genf, der die Steuer für den Schweizer Rohstoffverband mitentworfen hatte, bevor Maurer diese weitgehend übernahm. «Überraschenderweise», so scherzte Wermuth, sehe das zweite Gutachten keinerlei Probleme. Der Ständerat hat die heikle Debatte bis auf nach den Wahlen hinausgezögert.

Fraktionsgrössen im Nationalrat: Steuern (Infografik)

AHV : Voller Teuerungsausgleich?

Essen, Energie, Mieten: Letztes Jahr ist in der Schweiz alles teurer geworden, und zwar um durchschnittlich 2,8 Prozent. Das spürt auch, wer pensioniert ist. Zwar hat der Bundesrat auf Anfang 2023 die AHV-Renten angehoben. Allerdings nur um 2,5 Prozent, womit die Rentner:innen einen Kaufkraftverlust hinnehmen mussten.

Letztes Jahr noch wollte eine knappe Mehrheit im Parlament diese Lücke füllen. Im Frühling kam jedoch die Wende, eine bürgerliche Mehrheit lehnte das Ansinnen knapp ab (vgl. Grafik). FDP-Nationalrätin Regine Sauter bezeichnete den Vorstoss als «billigen Wahlkampf», weil es um kleine Beträge gehe: «Die Mindestrente würde ab Juli 2023 um sieben Franken pro Monat erhöht, die Maximalrente um 14 Franken pro Monat. Das ist sehr viel Lärm für sehr wenig Wirkung im Ziel, kann man da nur sagen.»

Mattea Meyer (SP) verwies ihrerseits auf steigende Krankenkassenprämien, Mieten und die allgemeine Teuerung. «Jetzt kommen Sie und sagen, das sei lächerlich, es sei den Aufwand nicht wert», sagte Meyer an Sauters Adresse. «Es sei ein viel zu kleiner Betrag. Ja gut, wir können den Betrag gerne erhöhen.» Der Ständerat hätte das Geschäft noch retten können. Doch anders als die Mitte-Fraktion in der grossen Kammer stimmte jene im Ständerat nicht ganz geschlossen dafür. Das Geschäft scheiterte wegen einer Stimme – unter anderem am Nein der beiden Mitte-Ständeräte Daniel Fässler (AI) und Peter Hegglin (ZG).

Fraktionsgrössen im Nationalrat: AHV (Infografik)