Schwedens Nato-Beitritt: 73 Bauernopfer
Um der Nato beitreten zu können, hat Schweden der Türkei weitgehende Konzessionen gemacht. Wie es scheint, bekommen die Kurd:innen im Land diese nun mit aller Härte zu spüren.
Schweden und Finnland wollen in die Nato, und dafür schrecken die beiden Länder auch vor den ganz grossen Konzessionen an den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan nicht zurück. Ein Beitritt muss von den Mitgliedern des Bündnisses einstimmig gutgeheissen werden – und das Mitglied Türkei lässt sich sein Ja teuer bezahlen.
Die Liste der Konzessionen, die Ankara am Nato-Gipfel Ende Juni in Madrid aushandeln konnte, ist lang. Alle aber haben sie eines gemeinsam: Sie dienen Erdogans Krieg gegen die kurdische Bewegung. Einschränkungen von Waffenlieferungen in die Türkei, die nach ihrer Invasion in Rojava 2019 beschlossen wurden, werden fallen gelassen; die beiden Länder verpflichten sich, zukünftig keine Rüstungsembargos gegen die Türkei zu verhängen; und obendrein verkaufen die USA der Türkei vierzig neue F16-Kampfflugzeuge und rüsten Jäger auf, die die Türkei von den USA gekauft hatte. Der Jet wurde gegen Rojava, die Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien, eingesetzt.
Wirklich Routineprozesse?
Mit einer der Abmachungen opfern Schweden und Finnland gar einen Teil ihrer eigenen Bevölkerung Erdogans Machtpolitik: Die türkische Delegation hatte am Nato-Gipfel klargemacht, dass ihr Ja zum finnischen und besonders zum schwedischen Nato-Beitritt davon abhängen würde, ob politische Flüchtlinge an die Türkei ausgeliefert würden. Diese Abmachung trifft vor allem Kurd:innen in Schweden, wo ihre Community besonders gross ist.
Nach den Verhandlungen in Madrid sagte Erdogan an einer Medienkonferenz, dass sich Schweden zur Auslieferung von 73 Personen bereit erklärt habe. Ein Dementi gab es aus Stockholm nicht – nur einen Kommentar, wonach man sich an Gesetze halten werde.
In Schwedens kurdischer Diaspora geht nun die Angst um.
Nun scheinen sich die ersten Folgen des Deals zu zeigen. Mitte August kündigte die schwedische Regierung an, einen wegen Kreditkartenbetrug verurteilten kurdischen Türken ausliefern zu wollen – eine «Routineangelegenheit», wie Justizminister Morgan Johansson sagte. Die Auslieferung eines normalen Kriminellen? Gemäss Recherchen des öffentlich-rechtlichen Senders SVT wurde der Mann fälschlicherweise verurteilt. Zudem war er aufgrund seiner Konvertierung zum Christentum und seiner Militärdienstverweigerung zuvor in Italien als Flüchtling anerkannt worden.
Eine Woche nach der Regierungsankündigung wurde in Schweden der kurdische Flüchtling Zinar Bozkurt festgenommen. Bei der Beantragung des Asyls hatte Bozkurt vor acht Jahren seine Homosexualität, seine kurdische Identität und seine Unterstützung der linken Partei HDP als Fluchtgrund angegeben. Nachdem ihm die schwedische Sicherheitspolizei Säpo Kontakte zur PKK unterstellt hatte, wurde der Antrag von der Migrationsbehörde zurückgewiesen – zu einer Auslieferung kam es vorerst jedoch nicht. «Warum die Polizei beschloss, dass Zinar ein Sicherheitsrisiko für Schweden darstelle, und warum der Fall überhaupt bei der Säpo landete, ist uns unklar», sagt sein Anwalt Miran Kakaee gegenüber der WOZ. Die Säpo will auf Anfrage nichts sagen.
Sind die beiden Fälle also wirklich Routineprozesse, wie das schwedische Justizministerium behauptet? Die aktuelle Häufung möglicher Auslieferungen spreche eine andere Sprache, sagt Kakaee. In den letzten dreissig Jahren habe Schweden gerade einmal fünf Personen an die Türkei ausgeliefert; zudem sei die Auslieferung von Leuten mit politischem Profil unüblich. Von den bisher 33 Auslieferungsgesuchen aus Ankara wurden 19 abschlägig beantwortet, 5 wurden nicht beantwortet, und bei 9 Fällen ist die Entscheidung noch hängig. «Vielen der Betroffenen droht in der Türkei Folter», begründet Kakaee die bisherige Zurückhaltung Schwedens. Bei 28 der 33 Gesuche gehe es um zumindest mutmassliche Mitglieder der PKK, anderer linker Gruppen oder der Gülen-Bewegung.
Ein Präzedenzfall?
In Schwedens kurdischer Diaspora geht nun jedoch die Angst um. Kakaee sagt, dass sich derzeit viele seiner Mandant:innen bei ihm erkundigen würden, was die Nato-Absprachen für sie bedeuteten. Dass unter Kurd:innen in Schweden die Furcht umgeht, bestätigt auch Ridvan Altun vom Kurdischen Zentrum für eine demokratische Gesellschaft: «Wir Kurd:innen sind vor Erdogans Unterdrückung nach Europa geflüchtet. Und jetzt werden wir auf türkischen Druck hin auch hier verfolgt.»
Seit seiner Festnahme befindet sich Zinar Bozkurt im Hungerstreik. «Zinars Fall ist in die Mühlen der Nato-Beitrittsverhandlungen geraten», sagt sein Anwalt Kakaee. Selbst wenn seine Verhaftung keine Folge der Nato-Verhandlungen wäre: «Der Ausgang der Sache wird auch politische Folgen haben» – die Auslieferung könnte zum Präzedenzfall werden. Derweil droht Erdogans Regierung weiter damit, die Beitrittsgesuche aus Europas Norden abzuschiessen, sollten ihre Forderungen nicht erfüllt werden.