Gazastreifen: «Wir wollen leben»

Nr. 37 –

In der palästinensischen Enklave ringen militante Gruppen um Einfluss. Der Islamische Dschihad setzt auf bewaffneten Kampf, die Hamas auf Ruhe im Austausch für Konzessionen von Israel. Die Bevölkerung will vor allem eins: ein Leben frei von Unterdrückung.

Nach jedem militärischen Angriff wird der Gazastreifen in Trümmern zurückgelassen, mit trauernden Menschen, verwundeten Zi­vi­list:in­nen, und es folgt ein quälend langsamer Wiederaufbauprozess, der nie vollendet wird, weil die Situation immer bereits vorher erneut eskaliert.

So wie bei der israelischen Operation «Breaking Dawn» (Morgengrauen) im August. Der Gewalt vorausgegangen waren mehrere Razzien und die Verhaftung eines führenden Politikers des Islamischen Dschihad in Palästina (Palestinian Islamic Jihad, PIJ) durch die israelische Armee im Westjordanland. Der PIJ reagierte mit der Androhung von Gewalt, Israel antwortete mit Luftangriffen und der gezielten Tötung eines PIJ-Führers in Gaza, woraufhin wiederum der PIJ Israel mit Raketen beschoss. Die Situation eskalierte: 49 Pa­läs­ti­nen­ser:in­nen wurden getötet, darunter 17 Kinder; Hunderte Zi­vi­list:in­nen wurden verwundet, Dutzende von Häusern zerstört, und sowohl die israelische Regierung als auch der PIJ bezeichneten sich nach dem Ende der Operation als Sieger.

Geschäftliche Beziehungen

Ungewöhnlich war dieses Mal jedoch, dass die Hamas nicht an der «Siegesfeier» teilnahm. Denn sie hatte während der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Israel und dem PIJ keinen einzigen Schuss abgefeuert und auch keinen Finger gerührt, als die Dschihadisten bei israelischen Luftangriffen zwei ihrer wichtigsten Führer verloren. Stattdessen übte die Hamas Druck auf den PIJ aus, damit dieser die Eskalation beendete.

Die De-facto-Herrscher der isolierten Enklave entschieden sich, dem Gazastreifen diesmal einen ruinösen Krieg zu ersparen und dafür positive – wenn auch sehr begrenzte – Fortschritte bei der Lockerung der seit fünfzehn Jahren anhaltenden Blockade durch Israel zu erzielen. Die Beziehung zwischen Hamas und Israel ist geschäftlicher Natur: Die Hamas sorgt für Ruhe im Gazastreifen; im Austausch dafür lockert Israel teilweise seine Blockade, indem es beispielsweise die Fischereizonen der Enklave ausweitet, Geldflüsse aus Katar an verarmte Familien zulässt oder in jüngster Zeit etwa 14 000 Menschen aus Gaza erlaubt, in Israel zu arbeiten.

Viele Dreissig­jährige hatten noch nie einen Job.

Der Islamische Dschihad jedoch glaubt weiterhin an den kompromisslosen bewaffneten Kampf und nimmt es der Hamas übel, wenn Israel im Gegenzug für eine Befriedung und Erduldung der Blockade gelegentlich Gnadenkrümel verteilt – vor allem wenn gleichzeitig die israelische Gewalt im Westjordanland zunimmt. «Wenn wir aufhören, Widerstand zu leisten, und uns mit ein paar Erleichterungen zufriedengeben, wer wird dann unsere Rechte einfordern?», fragte Siad al-Nachalah, der Chef der PIJ, wenige Wochen vor der Eskalation im August. Im Gegensatz zur Hamas trägt der PIJ aber auch keine Verantwortung gegenüber der Bevölkerung im Gazastreifen und hat daher wenig zu verlieren, wenn er gewaltsam vorgeht. Der Konkurrenzkampf zwischen den beiden Akteuren um Einfluss und Vorherrschaft äussert sich darin, dass heute über den meisten Moscheen in Gaza nicht nur grüne Hamas-Flaggen, sondern ab und zu auch schwarze PIJ-Fahnen wehen.

Verschmutztes Trinkwasser

Die Mehrheit der Bevölkerung denkt jedoch nicht ideologisch und positioniert sich nicht grundsätzlich für oder gegen den gewaltsamen beziehungsweise gewaltlosen Widerstand oder für eine Ein- oder Zweistaatenlösung. Die Menschen in Gaza denken pra­g­matisch: Was für sie zählt, ist einzig, welche Politik zu einem Durchbruch führen kann. «Wir wollen grundlegende Dinge, die für die Menschen auf der anderen Seite der Mauer selbstverständlich sind», sagt der 31-jährige Fotograf Walid Mahmud. «Wir wollen frei reisen können ohne israelische ‹Sicherheitsgenehmigungen› und demütigende Kontrollen an Checkpoints, wir wollen arbeiten, wir wollen uns verlieben, Familien gründen und genügend Essen auf den Tisch stellen.»

Die Abriegelung und Isolierung des Gaza­streifens sperrt die Bevölkerung jedoch von der Geburt bis zum Tod in ein Ghetto, in dem Armut, Leid und Arbeitslosigkeit beispiellos sind. Gaza hat eine der höchsten Arbeitslosenquoten weltweit. Fast die Hälfte der Menschen im erwerbsfähigen Alter ist ohne Job, bei den unter 29-Jährigen beträgt die Arbeitslosenrate gar über sechzig Prozent. Acht von zehn Menschen sind abhängig von irgendeiner Form von humanitärer Hilfe, zwei Drittel der Bevölkerung überleben nicht ohne Essenshilfe. Fast das gesamte Trinkwasser in Gaza ist verschmutzt, Strom gibt es nur wenige Stunden pro Tag.

Zudem sind das Trauma des Kriegs und das Gefühl der Beklommenheit allgegenwärtig: Am Himmel über Gaza summen rund um die Uhr israelische Drohnen, im Norden und Osten ist die Enklave mit Betonmauern und elektrischen Hochsicherheitszäunen abgeriegelt, und vor der Mittelmeerküste im Westen patrouillieren israelische Kriegsschiffe. Die Zeit vergeht schmerzhaft langsam, und es ist keine nennenswerte Hoffnung in Sicht. Viele junge Menschen erreichen das Alter von dreis­sig Jahren, ohne jemals an Wahlen teilgenommen zu haben, ohne einen Job gefunden zu haben, um für sich selbst zu sorgen, und ohne jemals eine intime Beziehung geführt zu haben, weil sie sich weder eine Hochzeit noch eine eigene Wohnung leisten können. Ein enger Freund sagte einmal zu mir: «Ich habe Angst, zu sterben, bevor ich überhaupt gelebt habe.»

Die Menschen in Gaza sind sowohl vom «Friedensprozess» als auch vom «bewaffneten Widerstand» enttäuscht. Ihre Unterstützung für die Hamas, den PIJ oder bewaffnete Aktio­nen hängt jeweils von der aktuellen Situation ab. Verschlechtert sich ihre Lage – sei es, weil Israel die Ruhe in Gaza ignoriert und seine Versprechen zur Lockerung der Blockade nicht einhält, sei es, weil es seine Übergriffe im Westjordanland und in Jerusalem verstärkt –, wachsen Verzweiflung, Wut und Ohnmacht. Dazu kommt das Gefühl, von der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen worden zu sein. «Die Menschen sind verzweifelt, denn sie haben alles versucht, aber nichts hat funktio­niert», sagt Ali Adam, ein politischer Analyst und Journalist im Gazastreifen. «Weder Verhandlungen, Raketen, friedliche Proteste, ‹Freiheitsflottillen› oder Onlineaktivismus haben etwas an der Situation geändert.» Dass die israelische Blockade gerade in ihr 16. Jahr eingetreten sei, ohne dass die internationale Gemeinschaft viel Aufhebens gemacht habe, signalisiere der Bevölkerung, dass die Situation wohl noch jahrelang so bleiben werde, während die Welt schweige, so Adam.

Dieses Ohnmachtsgefühl lässt den Glauben der Bevölkerung an Gewaltlosigkeit schwinden. «Die Menschen denken, es sei besser, den Status quo zu erschüttern, als unendlich unter ihm zu leiden», sagt Adam. So erhalten Gruppen am Rand der Gesellschaft, die den bewaffneten Widerstand befürworten, eine gewisse Glaubwürdigkeit: Sie sollen den Israelis etwas von den Schrecken zu schmecken geben, denen Pa­läs­ti­nen­ser:in­nen täglich ausgesetzt sind.

Proteste gegen die Hamas

Wenn jedoch Ruhe herrscht und es Hoffnung auf Besserung gibt, sinkt die Popularität der bewaffneten Gruppen. Wenige Tage vor der Eskalation im August riefen prominente Ak­ti­vist:in­nen – von denen einige nach ihrer Verfolgung durch die Hamas in Belgien im Exil leben – die Bevölkerung des Gazastreifens dazu auf, am 5. August auf die Strasse zu gehen und mit dem Slogan «Bidna naisch» (Wir wollen leben) gegen die Hamas-Herrschaft zu protestieren. Der Aufruf gewann an Zugkraft, junge Menschen wollten mit ihren Forderungen gehört und gesehen werden, die Proteste sollten im ganzen Gazastreifen stattfinden.

«Unsere Möglichkeiten dürfen nicht nur darin bestehen, entweder beim Versuch, nach Europa zu gelangen und dort Asyl zu suchen, im Meer zu ertrinken, uns in Gaza das Leben zu nehmen oder apathisch darauf zu warten, bis sich etwas ändert», sagt Nasir, ein Aktivist, der den Aufruf mitlanciert hatte und aus Sicherheitsgründen nicht seinen vollen Namen nennen will. «Wir wollen ein würdiges Leben, und wir fordern es von allen: von der Hamas, von Israel und von der Palästinensischen Autonomiebehörde.» Zu den Forderungen der Ak­ti­vist:in­nen gehören die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Lösung der Stromkrise, der Schutz bürgerlicher Freiheiten oder die Senkung von Zöllen und Steuern auf Gütern des Grundbedarfs. Die israelische Operation «Breaking Dawn» begann jedoch am Tag des geplanten Protests, wodurch die Demonstrationen im Keim erstickt wurden.

Der Staub nach dieser letzten Gewaltrunde hat sich gelegt, doch in welche Richtung sich die Situation in Gaza bewegt, ist noch nicht entschieden. Die Menschen sind verbittert, weil der PIJ eine verheerende Eskalation heraufbeschworen hat. Aber einige kritisieren auch die Hamas, weil sie untätig geblieben ist und keine Früchte für ihren «Ausverkauf» geerntet hat. Das Zünglein an der Waage ist Israel, und dessen künftige Politik gegenüber dem Gazastreifen: Anerkennt und belohnt es die Ruhe in Gaza, wird das den Glauben der Bevölkerung an die Gewaltlosigkeit, den Dialog und die Diplomatie fördern. Setzt es aber seine destabilisierende Politik der kollektiven Bestrafung fort – mit gelegentlichen Lockerungsmassnahmen, um die Bevölkerung ruhigzustellen –, stärkt das diejenigen, die behaupten, Israel verstehe nur die Sprache der Stärke und Gewalt.

Muhammad Shehada (27) ist ein palästinensischer Journalist und politischer Analyst aus dem Gazastreifen. Seit 2021 lebt er in Kopenhagen. Nathalie Schmidhauser hat seinen Text aus dem Englischen übersetzt.