Westjordanland: Furcht vor dauerhafter Vertreibung
Dschenin rückt ins Zentrum der grössten israelischen Militäroperation im Westjordanland seit über zwanzig Jahren. Viele Bewohner:innen fliehen vor den Kämpfen. Beobachter:innen fürchten eine Ausweitung des Gazakriegs.
Es war Mittwoch vor einer Woche, als Soldaten im Flüchtlingslager von Dschenin vor Rabi’a Rabaijas Tür standen. «Sie haben das Haus gestürmt und uns alle ins Schlafzimmer meines Vaters geschickt», sagt der 54-Jährige am Montag darauf am Telefon. Die zehn Familienmitglieder, darunter seine 78-jährige Mutter, hätten drei Tage mit wenig Wasser und Nahrung in diesem Raum verbracht, während in den Strassen vor dem Haus ebenso wie in den Städten Tulkarem und Tubas im Norden des besetzten Westjordanlands die grösste israelische Militäroperation seit mehr als zwanzig Jahren begann. Die Soldaten hätten den Rest des kleinen zweistöckigen Hauses im Zentrum des Flüchtlingslagers als Basis genutzt.
Die Familie habe nur mit Erlaubnis der Soldaten aus dem Zimmer kommen dürfen. Zusammengedrängt hätten sie immer wieder Geschrei und Schüsse gehört, erzählt Rabaija, besonders in den Nächten. Nach zwei Tagen legten ihm Soldaten Handschellen und eine Augenbinde an und hielten ihn die Nacht über in einem Armeefahrzeug fest. Er habe, sagt Rabaija, in Dschenin schon zahlreiche israelische Razzien gesehen, «aber nie solch ein Mass an Brutalität». Auf Anfrage will sich die israelische Armee nicht zu diesen Vorwürfen äussern.
«Rasenmäher»-Razzien
Seit Mittwoch letzter Woche gehen die israelischen Sicherheitsbehörden nach eigenen Angaben mit Bodentruppen, Luftangriffen und Bulldozern gegen militante palästinensische Gruppen vor. Nach den Flüchtlingslagern Nur Schams und Far’a gilt der Hauptfokus seit Anfang dieser Woche dem Flüchtlingslager bei Dschenin. Die dortigen Camps gelten als Hochburgen des Islamischen Dschihad in Palästina (PIJ), der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen. Die Stadt war zwischenzeitlich abgeriegelt, das Spital umstellt.
Die Operation ist laut dem israelischen Militär eine Reaktion auf palästinensische Angriffe, die seit dem Beginn des Gazakriegs zugenommen hätten. Nach Uno-Angaben wurden dabei in diesem Jahr neun Angehörige der Sicherheitskräfte und fünf israelische Siedler getötet. Zehn Israelis starben bei Angriffen innerhalb Israels. Mitte August scheiterte ein Bombenanschlag in Tel Aviv. Aussenminister Israel Katz beschuldigte zudem zu Beginn des Einsatzes den Iran, «eine terroristische Front gegen Israel im Westjordanland» aufzubauen.
Der Umfang der Operation ist so gross wie seit der Zweiten Intifada, einem palästinensischen Volksaufstand im Jahr 2000, nicht mehr. Das Vorgehen ist nicht neu. In israelischen Sicherheitskreisen haben die kontinuierlichen Razzien gegen bewaffnete Palästinenser über die Jahrzehnte den makaberen Beinamen «Rasenmähen» bekommen. In regelmässigen Abständen tötet oder verhaftet die Armee in den besetzten Gebieten Verdächtige und zieht sich wieder zurück. Junge bewaffnete Palästinenser liefern sich Kämpfe mit den Soldaten. Oft bleiben Tote zurück. Mehr als 650 Palästinenser:innen starben seit Kriegsbeginn im Westjordanland. Nicht selten treffen die Kugeln neben Kämpfern auch unbeteiligte Zivilist:innen oder jugendliche Steinewerfer. Seit Beginn der Operation vor einer Woche wurden nach Armeeangaben mehr als dreissig Bewaffnete getötet. Erschossen wurden aber laut Medienberichten auch Unbeteiligte wie der 63-jährige geistig beeinträchtigte Adsched Abu al-Haidscha aus Tulkarem.
Spuren der Verwüstung
Reinhard Schulze, langjähriger Direktor des Instituts für Islamwissenschaften der Universität Bern, sieht vor diesem Hintergrund die Gefahr einer Ausweitung des «Gazakriegs zu einem Palästinakrieg» mit schwer abschätzbaren Folgen. Anders als im bisher vor allem von der Hamas dominierten Gazastreifen seien im Westjordanland zahlreiche Kräfte am Werk. «Die Hamas hat zwar einen politischen Rückhalt in Hebron, Tulkarem und Tubas», sagt Schulze. Sie hätten aber bisher keine derart tiefgreifenden Strukturen wie im Gazastreifen aufbauen können. «Hamas-Leute waren nur für knapp zehn Prozent der militanten Aktionen im Westjordanland verantwortlich.»
Das liege auch am Widerstand anderer palästinensischer Fraktionen. Dazu zählt einerseits der PIJ, der laut Schulze über «das breiteste Netzwerk der Militanz im Westjordanland» verfügt, kaum politisch auftritt und in grossem Ausmass vom Iran unterstützt wird. Andererseits bleibe die Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas der wichtigste politische Kontrahent. Deren militärischer Arm, die Al-Aksa-Märtyrerbrigaden, sei für etwa vierzig Prozent der militanten Aktionen im Gebiet verantwortlich. Wahrscheinlicher als ein Erstarken der Hamas sei die Etablierung einer wechselnden Zusammenarbeit der bestehenden lokalen militanten Gruppen, allen voran des PIJ.
Palästinenser:innen warnen indes, die immer häufigeren und tödlicheren Razzien der Armee würden das Problem der zunehmenden Militanz eher vergrössern. Jeder Vorstoss der Armee hinterlässt in den dicht besiedelten Flüchtlingslagern eine Spur der Verwüstung. Im Lager von Dschenin sind die Wände der schmalen Gassen übersät mit Plakaten der «Märtyrer», wie sie dort genannt werden. Schwere Militärbulldozer haben einen Grossteil der breiteren Strassen aufgerissen, um allfällige Sprengfallen zu finden, und dabei Rohre und Leitungen zerstört – lebenswichtige Infrastruktur für die laut der Regionalverwaltung rund 18 000 Bewohner:innen.
Operation nur der Anfang?
Als Rabi’a Rabaija am Samstagmorgen freigelassen wird, befehlen ihm die Soldaten, mit seiner Familie das Lager zu verlassen. «Wir sollten dabei ein weisses Tuch halten», erzählt er. Er habe seine altersschwache Mutter rund zwei Kilometer entlang der zerstörten Strasse tragen müssen, bevor ein Rettungswagen sie in ein Krankenhaus habe bringen können. Die Familie sei fürs Erste bei seinem Cousin auf der anderen Seite von Dschenin untergekommen, während die Kämpfe weitergehen.
Eine Anordnung zur Evakuierung gibt es der Armee zufolge nicht. Dennoch fürchten viele Palästinenser:innen eine dauerhafte Vertreibung, nicht zuletzt, nachdem Aussenminister Katz auf X gefordert hatte: «Wir müssen mit der Bedrohung gleich umgehen wie mit der Terrorinfrastruktur in Gaza, einschliesslich der vorübergehenden Evakuierung palästinensischer Zivilisten.»
Am Sonntagmorgen verlassen immer wieder Gruppen von Bewohner:innen das Lager, bei sich nur, was sie tragen können. Fatija Kendscheri stützt sich beim Gehen mit einer Hand auf ihren Stock, mit der anderen auf den Arm ihrer Enkelin. «Es ist das dritte Mal, dass ich mein Haus zurücklassen muss», sagt die 73-Jährige. Sie und ihre Familie beschlossen zu fliehen, nachdem ein Bulldozer einen Teil des Hauses zerstört hatte. Wann die Familie zurückkehren kann, ist offen. Die israelische Zeitung «Israel Hayom» schreibt unter Berufung auf Sicherheitskreise, die Operation in Dschenin sei «nur der Anfang». Die Armee sehe das Westjordanland zunehmend als wichtigste Front nach dem Gazastreifen.
Proteste in Israel : Vielleicht die letzte Chance
Wie düster der vergangene Sonntag für viele Israelis war, ist von aussen kaum nachzufühlen. Sechs Geiseln, von denen einige im Fall des Zustandekommens eines Abkommens als Erste hätten freigelassen werden sollen, wurden stattdessen von der Hamas hingerichtet – bevor das nah herangerückte israelische Militär sie erreichen konnte. Ein widerliches Kriegsverbrechen. Gleichzeitig trägt der militärische Druck Israels eine Mitschuld an ihrem Tod. Schon lange zweifelt ein Grossteil des Landes an der Argumentation von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, der militärische Druck würde die Geiseln heimbringen. Nun glauben auch die Letzten nicht mehr daran. Trotzdem beharrt Netanjahu auf seiner Blockadehaltung in Bezug auf ein Waffenstillstandsabkommen und eine Freilassung der noch immer rund hundert Geiseln in Gaza.
Doch wird die aktuelle Erschütterung den politischen Wendepunkt bringen, auch wenn er für Hersh Goldberg-Polin (23), Carmel Gat (40) und viel zu viele andere Geiseln zu spät kommt? Wird dies das Ende Netanjahus sein? Das liegt durchaus im Bereich des Möglichen: Die Protestbewegung muss lahmlegen, was lahmzulegen ist. So hatte die Dachgewerkschaft Histadrut am Montag den Generalstreik ausgerufen. Auch wenn das Arbeitsgericht in Bat Yam am selben Tag anordnete, dass der Streik – er sei ein politischer und kein Arbeitsstreik – bereits mittags enden müsse. Es bräuchte mehr von dieser Haltung, wie sie der Direktor eines liberalen Gymnasiums in Tel Aviv an den Tag legt: Keine Rückkehr zum normalen Lernen in der Schule, sagte er, bis die Geiseln zurück seien.
Auf parlamentarischer Ebene müssen diejenigen Abgeordneten der Regierungskoalition, die noch ein Gewissen haben (man vermutet, dass es davon tatsächlich noch eine Handvoll gibt) der Regierung endlich ihre Mehrheit entziehen – sie verfügt über 64 von 120 Parlamentssitzen. Sie könnten sich Verteidigungsminister Yoav Gallant anschliessen, der vergangenen Donnerstag heftig mit Netanjahu aneinandergeraten ist. Streitpunkt: der sogenannte Philadelphi-Korridor. Netanjahu widersetzt sich einem Abzug der israelischen Streitkräfte aus diesem Grenzgebiet zwischen Ägypten und Gaza. Damit verhindere er ein Abkommen, so Gallant. Ähnlich tönt es aus den Führungskreisen von Geheimdienst und Militär. Sie liegen ohnehin seit langem mit Netanjahu ob seiner Kriegsführungsstrategie über Kreuz. Ein geschlossener Rücktritt der Armee- und Geheimdienstspitzen würde ein weiteres Erdbeben auslösen – eines mit mehr Wut und weniger Trauer.
Wie realistisch diese Möglichkeiten sind? Kaum jemand traut sich derzeit, Vorhersagen zu machen. Doch wenn das Land nicht von Netanjahu und seinen rechtsextremen Partnern in den Abgrund gezogen werden will, dann hat es jetzt noch eine Chance. Vielleicht ist es die letzte.