Jean-Luc Godard (1930–2022): Das Vermächtnis des JLG

Nr. 37 –

Lange nach Filmen wie «À bout de souffle» oder «Le Mépris» schuf Jean-Luc Godard sein eigentliches Opus Magnum: Es sind die «Histoire(s) du cinéma» von 1997. Am Dienstag ist er mit 91 Jahren gestorben.

Godard 1980 in Cannes
Godard 1980 in Cannes bei der Präsentation von «Sauve qui peut (la vie)». Foto: Guy Le Querrec, Magnum / Keystone

«Nouvelle vague», der Film, war 1990 ein erster Schwanengesang von Jean-Luc Godard: ein Abgesang auf den Godard-Film, mit dem man immer überfordert war und den man trotzdem sehen wollte, weil er ­einem auf rätselhafte Weise das Gefühl gab, etwas daran sei wichtig. Vielleicht der vermessene Anspruch, Kino müsse ein Denk- und Aufklärungsapparat sein. Danach trat Godard eher in den Hintergrund, auch weil ihm der Kinobetrieb seine Sprödigkeit heimzahlte. Selbst grossartige ­Alterswerke wie «Éloge de l’amour» und «Film socialisme» und zuvor «Liberté et patrie» an der Expo 02 galten als Werke für Cinephile, eine beklagenswerte, aussterbende Spezies. Godard war zwar längst ein lebender Mythos, es schien aber zugleich ein wenig absehbar, was kommen würde. Seine Kritik, seine Verweigerung gegenüber dem «Betrieb» waren legendär, aber auch Dekonstruktion kann sich totlaufen.

Was sich dagegen nicht totläuft, sind Godards «Histoire(s) du cinéma», die 1997 an der Documenta 10 in Kassel gezeigt wurden. Die Präsentation schloss damals eine mehr als zehnjährige Produktionsgeschichte ab. Durch transparente, stark spiegelnde Glaswände überblendeten sich nicht nur die auf mehreren Bildschirmen laufenden «histoire(s)», sondern auch die Betrachter:innen. Wir betrachten uns beim Betrachten: Mit dieser kongenialen Installation schuf der US-Künstler Dan Graham den visuellen Echoraum für Godards Reflexion der Bild- und Bedeutungsmaschine Kino.

In seinem monumentalen Filmessay legt Godard die Matrix seines Schaffens offen.

Aber habe ich die «Histoire(s) du cinéma» damals wirklich gesehen? Nein, eine Monumentalschau wie die Documenta ist nicht der idea­le Ort der Konzentration auf einen über vierstündigen Film. Aus der Distanz sieht man noch besser, warum die Präsentation der «Histoire(s) du cinéma» im Kontext der Kunst eine der stärksten Gesten an jener denkwürdigen Documenta 10 war. Ihre Kuratorin, ­Catherine David, hatte die vor sich hin dümpelnde Kunst der postmodernen Belanglosigkeit links liegen gelassen, um laut und klar zu sagen: Kunst muss aufrütteln, darf nicht selbstgefällig vor sich hinmachen, falls sie sich nicht gesellschaftlich überflüssig machen will. Sie öffnete Fenster zu anderen Disziplinen: Literatur, Architektur, Soziologie, Philosophie, Theater – und eben Film. Die Documenta 10 zeigte der Kunst den Ausweg aus der Grauzone der ideologisch verunsicherten neunziger Jahre.

Ja, ich sah dort genug von den «His­toire(s)», um mich sofort in Bann schlagen zu lassen. Behielt sie in Erinnerung als irrwitzige Montage: Bilder, Texte, Sounds und Klänge aus der Filmgeschichte, der Kunst, der Literatur, der Musik, gegliedert in acht Kapitel, strukturiert mit aphorismenhaften, im Stil konkreter Poesie grafisch gestalteten Textblöcken. Zum Gesamtkunstwerk verschmolz all das durch einen Erzähler, dem man immer nur zuhören wollte: Godard mit seiner ewigen Zigarre, der vorlas, was er in eine elektrische Schreibmaschine tippte, die ihren Textspeicher regelmässig entleerte wie eine Mitrailleuse ihr Magazin. Eine akustische Erfahrung, die heute museal ist – und deren militärische Asso­ziationen Godard bewusst einsetzte. Verkürzt gesagt: Die Unterhaltungsindustrie («Kino») ist geknüpft an dieselbe technologische Entwicklung, die auch Kriegs- und Propaganda­maschinerien hervorgebracht hat.

Schluss mit der Utopie

In diesem monumentalen Filmessay legt Godard die Matrix seines Schaffens offen. Die «Histoire(s)» sind durchkomponiert wie eine der grossen Orgelfugen Bachs (das wohlige Ostinato von Orgelbässen hört man auch da und dort). Es ist die Aufführung eines Virtuosen, der im analytischen Fach ebenso brilliert wie in der Synthese seiner erbarmungslosen Zerlegungskünste.

Was wird analysiert? Der Titel sagt es so schillernd wie klar: die Geschichte des Kinos als nach oben offene Zahl der Geschichten des Kinos und der Bilder. Wer Godard kennt, weiss, dass diese Analyse zu einem melancholischen Resultat führt. Der Befund von 1997, basierend auf dem Lebenswerk des einstigen Ethnologiestudenten, Filmkritikers, Filmregisseurs: Gut hundert Jahre, nachdem die Gebrüder Lumière 1895 in Paris die kommerzielle Ausbeutung des Films begannen und damit das begründeten, was bald darauf zur Traumfabrik Hollywood wurde, ist das Kino am Ende.

Natürlich ist nicht der Film am Ende. Schluss jedoch ist mit der – von Anfang an männlich dominierten – Utopie vom Kino als der «achten Kunst», geprägt von Autoren: von George Méliès und D. W. Griffith über Sergej Eisenstein und Fritz Lang bis zu Hitchcock, Rossellini und der Nouvelle vague von Godard und seinen Mit­strei­ter:in­nen. Diskreditiert hat sich das Kino, weil es als Massen- und Propagandamedium die Massen nicht gebildet und aufgeklärt, sondern mit suggestiver Bildrhetorik und zuckersüssen Illusionen noch über die bitterste Wirklichkeit hinweggetäuscht hat. Erledigt ist das Kino aber auch als analoge Technik (wobei Godard selber früh mit revolutionären Entwicklungen wie Video experimentierte und in seinem nunmehr letzten Film, «Le Livre d’image», auch den Bilderstrom im Internet befischte).

Kompromittiert schliesslich ist das Kino, weil es, wie die Fotografie, als gefrässige Erinnerungsmaschinerie alles Menschliche und Unmenschliche festhielt. Es dokumentierte auch die Jahrhundertkatastrophen Auschwitz und Vietnam, die Godard und seine Generation tiefer aufwühlten als jede andere – und verbarg sie zugleich, weil den Mächtigen die Ablenkungs- und Bewusstseinsmaschinerie Kino lieber war. Die Einschaltquote und heute die Netflix-Algorithmen waren und sind die Instrumente dafür.

Spröd, kantig? Sinnlich!

Die «Histoire(s) du cinéma» als Synthese verbinden all das, was Godards Biografie als Regisseur geprägt hat und was er zugleich als Bausteine des Kinos wie auch seiner eigenen Filme vorführt: die grossen realistischen Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Balzac, Zola vor allem, Hugo, Flaubert, Proust, Céline, Gide; aber auch die Lyrik, Baudelaires «Voyage», Celans «Todesfuge», beides Jahrhundertgedichte. Die «Histoire(s)» sind voller grossartiger Musik vom Mittelalter über Beethoven bis zu Ton Steine Scherben mit ihrer für Godard sehr passenden Parole «Macht kaputt, was euch kaputt macht». Nicht umsonst ist der Soundtrack separat vermarktet worden: Musik macht Bilder.

Godard montierte Stills und Sequenzen aus der Filmgeschichte, die ihm wichtig waren, und das, kurz vor dem Durchbruch des Digitalen, als hätte er dessen umwälzende Kraft geahnt, mit den analogen Möglichkeiten des Videos: Experimente mit Tempo und Schnitt, das ganze Arsenal der akustischen und optischen Schnitt- und Überblendungstechniken. Vor allem aber sind die «Histoire(s)» eine Geschichte der Malerei, die für Godards Blick auf die Welt so wichtig war. Von Giotto über Rembrandt und Caravaggio bis zu Goya, Manet, Turner, schliesslich ­Picasso: Es sind die Meister des Lichts und die Dramatiker der menschlichen Existenz, die für ihn zur Ahnenreihe des Verführungs­apparats Kinos gehören, ebenso wie die Foto­pioniere Joseph Nicéphore ­Niépce und ­Nadar. Godard zeigt, wie bereits in der Kunst seit Jahrhunderten jene Wirklichkeiten produziert werden, von denen wir immer noch allzu gerne denken, sie seien die Aufzeichnung einer Realität – und wie sich diese in unser Weltbild einschleichen.

Und so geschieht das Wunder: Godard, beargwöhnt als spröd und kantig, Godard, der Verweigerer und ätzende Zeitkritiker, schafft ein soghaftes, sinnliches Werk, das um die Sehnsucht des Blicks weiss, auch um die Sehnsucht nach dem Körper, weitab der Klischees der Pornoindustrie. Die Geschichte(n) des Kinos mögen zu Ende sein, plattgewalzt, banalisiert, ausverkauft von den Medienkonzernen. Doch die Geschichte der «Zeichen, die unter uns sind», wie das letzte Kapitel heisst, ist es noch längst nicht. Heute, 25 Jahre nach ihrem Erscheinen, wird immer deutlicher, was die «Histoire(s) du cinéma» sind: ein Schlüsselwerk, um über die Produktion und Wahrnehmung von Bildern, ihre Geschichte, ihre Bedingungen sowie ihre Verwendungsweisen in unserer Gesellschaft nachzudenken. Sie sind die Essenz des Godard-Films, sie sind Jean-Luc Godards Vermächtnis. Und im Bilddelirium der Gegenwart stellen sie Fragen nach der unheimlichen Macht der Bilder, wie sie aktueller nicht sein könnten.