Russland: Schon in der Schule werden sie auf Krieg gedrillt

Nr. 37 –

Mit dem neuen Schuljahr hat in Russland eine neue, totalitäre Ära des Schulbetriebs begonnen: Mit patriotischem Pioniergeist, propagandistischer Lehre und staatlichen Kontrolleuren wollen Putinist:innen die neue Generation vom frühesten Alter an ideologisch zurichten.

Kürzlich machte ein erschütterndes Video die Runde: Wladimir Solowjow, TV-Moderator und Chefpropagandist des Putin-Regimes, schwört ein Publikum aus lauter Kindern darauf ein, dass ein Leben nur dann etwas wert sei, wenn man es für eine höhere Idee opfere – gegenwärtig also für das Vaterland im Krieg gegen die «Ukronazis». Es mochte dies ein besonders eklatantes Beispiel von Propaganda für die Kleinen gewesen sein. Doch dass russische Kinder massenmedial auf den Krieg gegen die Ukraine eingeschworen werden, ist keinesfalls neu.

Schon eine Woche nach Russlands Invasion strahlte das russische Aufklärungsministerium ein Lehrvideo mit dem Titel «Die Verteidiger des Friedens» aus. Darin wurde den Schü­ler:in­nen die Notwendigkeit der «militärischen Spezialoperation in der Ukraine» erläutert: Russland kämpfe gegen die nazistische Unterdrückung alles Russischen in der Ukraine, führe gegen diese aber keinen Krieg und beschiesse vor allem auch keine zivilen Ziele – daher seien sämtliche Bilder und Berichte, die solches verbreiteten, per Definition ­Fälschungen.

Trickfilm für die Kleinen

Laut dem russischen Exilmedium «Meduza» sollen etwa fünf Millionen Schüler:innen diese Lektion verfolgt haben. Auch Vorschulkinder blieben nicht verschont: Für sie wurde ein Trickfilm produziert, in dem der russische Junge Wanja dem ukrai­nischen Jungen Mykola einen Stock wegnimmt, damit dieser aufhört, die Jungen Luhansk und Donezk zu verprügeln, wie sein neuer amerikanischer Freund ihm dies eingeflüstert hatte.

Unliebsame Lehrkräfte werden unter Druck gesetzt oder gefeuert.

Doch die Propaganda gelangt nicht nur übers Fernsehen in die Schulzimmer. In ganz Russland mussten Schüler:innen Geschichtsstunden mit dem Titel «Mein Land» (mancherorts auch: «Stunde der historischen Wahrheit» oder ähnlich) über sich ergehen lassen. Diese sollten ihnen helfen, das Zeitgeschehen einzuordnen und zu verarbeiten – dass dabei auch Bildmaterial mit blutigen Leichen zum Einsatz kam, um die Verbrechen der Ukraine im Donbas zu belegen, stand dazu offenbar nicht im Widerspruch. Das erklärte Ziel dieser Lektionen: Die Kinder sollten «eine angemessene Position im Hinblick auf die friedensstiftende Spezialoperation» entwickeln, «gegründet auf nachprüfbare Fakten und Dokumente» – so heisst es in den offiziellen Lehrunterlagen. Die Themen: der gemeinsame Sieg der Sowjetrepubliken über Nazideutschland, der Einfluss des Westens auf die Ukraine oder Russlands Wille zum Frieden.

In einem Bericht über eine solche Schulstunde in Tschuwaschien heisst es, die Kinder hätten darin erfahren, dass in den «Volksrepubliken» in Luhansk und Donezk Ein­woh­ner:in­nen «nach langen Tagen in Schutzräumen und Kellern endlich ans Tageslicht kommen, die russischen Soldaten begrüssen und humanitäre Hilfe erhalten». Weiter erfuhren die Schü­ler:in­nen, dass die russischen Bataillone «heroisch für ihre Brüder und für die Zukunft unserer slawischen Welt» kämpfen würden: «Unser Land hat seine Grenzen geöffnet und Hunderttausende Flüchtlinge aufgenommen, um ihnen Wohnraum und ihren Kindern Schul­plätze bereitzustellen.» Die Vorstellung von den zu rettenden ukrainischen «Brüdern» knüpft an das sowjetische Narrativ der Völkerbrüderschaft an. Es gibt sogar einen Gedichtband zum Schulgebrauch, der die entsprechende propagandistische Phrase schon im Titel führt: «Wir lassen die Unseren nicht im Stich!».

Bildung ist Chefsache

Im Rahmen solcher Schulstunden wurden den Kindern auch Ausschnitte aus Wladimir Putins Rede an die Nation vom 21. Februar 2022 vorgespielt. Dieser hat die russischen Bildungsreformen schon vor Jahren zur Chefsache erklärt. 2016 kündigte Putin an, bis 2020 nicht weniger als 1,68 Milliarden Rubel auf die «patrio­tische Bildung russischer Bürger» zu verwenden – eine Verdreifachung gegenüber den Jahren davor. Putin und seine Berater wissen aus sowjetischer Erfahrung sehr genau um die Wirkmacht einer Indoktrination, die im Kindesalter beginnt. Putin selbst brachte es in einer Rede auf den Punkt: «Ein Lehrer vermittelt nicht nur Wissen, er übt auch eine gewaltige Wirkung auf die Entwicklung der Persönlichkeit von Schülern, auf ihr Weltbild, ihr Wertesystem aus.»

Tatsächlich nutzt das Regime das Bildungswesen längst nicht nur als Medium eines Informationsdiktats, sondern auch zur schleichenden Radikalisierung und Rekrutierung der Jugend. Dazu dienen diverse Staatsorgane, Institute und Organisationen, allen voran die Jugendbehörde Rosmolodesch mit ihrem Ableger Rospatriotzentr, dem das patriotische Erziehungsprogramm im Namen eingeschrieben ist. Nach den Moskauer Protesten im Jahr 2019 etwa führte Rosmolodesch Kurse zur «Aufklärung» durch, die die Jugend darin schulen sollten, Fakes und Manipulationen im digitalen Raum zu entlarven. Spätestens seit dem «Gesetz von den Fakes», das eine Woche nach Kriegsbeginn in Kraft trat, dürfte offensichtlich sein, dass in der russischen Amtssprache alles «Fake» bedeutet, was nicht der Doktrin des Kremls entspricht. Rosmolodesch stellt ausserdem unterschiedlichste Bildungsangebote bereit, deren Rekrutierungs­potenzial besonders hoch ist, weil sie kostenlos sind.

Die krasseste Form solcher Zurichtung stellt sicherlich die Organisation Junarmija dar, die Kinder ab acht Jahren in militärischer Art für den ­«Vaterlandsdienst» drillt – von Regime­kriti­ker:in­nen wird sie regelmässig «Putlerjugend» genannt. Die 2016 gegründete Bewegung zählt nach eigenen Angaben nicht weniger als eine Million Mitglieder.

«Die Grosse Wende»

Angesichts der hohen Bedeutung, die das Putin-Regime der als Bildung getarnten Indoktrinierung beimisst, ist es auch kein Wunder, dass Putin höchstselbst die Leitung des Aufsichtsrats ­einer neuen, pionierähnlichen Kinderorganisation übernehmen wird, wie die Nachrichtenagentur Tass berichtete. Diese Organisation, am 19. Mai anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums der Pionierbewegung ins Leben gerufen, firmiert unter dem Namen «Die Grosse Wende», auch wenn sich die Duma bisher nicht offiziell auf diese Bezeichnung festlegen wollte. Die öffentlich kommunizierten pädagogischen Ziele des Projekts: Die Kinder sollen «immer im Kollektiv bleiben», «von schädlichen Einflüssen abgeschirmt» und «von Anfang an von Patrioten erzogen werden». Die neu gegründete Kinderorganisation hat ihre Arbeit zum neuen Schuljahr aufgenommen, wobei Ableger an jeder Schule vorgesehen sind.

Diese «Grosse Wende» steht symbolisch für eine Flut von Reformen, die – geschickt vermengt mit lang ersehnten Modernisierungsmassnahmen wie der Digitalisierung von Unterrichts­materialien – den Schulbetrieb ab diesem September in eine veritable Vorschule des totalitären Konformismus transformieren könnten. Was einige Schulen schon seit dem Frühjahr praktizieren, ist mit dem neuen Schuljahr für alle Pflicht geworden: Fortan sollen sie jeden Montag die russische Nationalhymne singen und die Nationalfahne hissen lassen, teils unter Mitwirkung des erwähnten Kindermilitärs ­Junarmija. Vielfach wurde den Kindern daher schon über die Sommerferien aufgegeben, die Nationalhymne auswendig zu lernen. Zur ­Finanzierung der hierzu benötigten patriotischen Insignien stellt der Staat den Schulen – die oft nicht einmal über funktionierende Sanitäranlagen verfügen – eine Milliarde Rubel zur Verfügung. Im Anschluss an diese Zeremonie findet, ebenfalls allwöchentlich, die neu eingeführte Klassenstunde «Gespräche über wichtige Fragen» statt. Diese soll der «Ausbildung traditioneller russischer geistig-moralischer Werte» dienen.

Wie einst in der DDR

Diese Neuerungen erinnern eklatant an althergebrachte sowjetische Praktiken, wie sie auch aus der DDR bekannt sind, wo Fahnenappell und Polit­information einst jeden Montag die Schulwoche einläuteten. Auch die Aushänge und «patriotischen Tafeln», die in manchen Schulklassen eingerichtet sind und etwa Zitate des eingangs erwähnten Propagandisten Solowjow bieten, erwecken die sowjetische Praxis der Wandzeitung zu neuem Leben.

Seit Beginn des neuen Schuljahrs steht Geschichtsunterricht schon ab der ersten Klasse auf dem Stundenplan; in den höheren Jahrgängen wurde die Zahl der wöchentlichen Geschichts­stunden erhöht. Zugleich werden die historischen Lehrbücher künftig um die jüngsten Ereignisse ergänzt. Aber auch die ältere Geschichte bleibt nicht unangetastet – so heisst die Kiewer Rus nunmehr einfach «Rus». Nach offiziellen Angaben sollen diese Reformen helfen, «die historische Erinnerung zu bewahren» – ein Code für die patriotische Heroisierung der russischen Vergangenheit, insbesondere des «Grossen Sieges» über Nazideutschland.

Als Intervention erprobt wurde solcher Unterricht, wie eingangs erwähnt, schon im vergangenen Schuljahr, gleich zu Beginn des Kriegs. Entsprechende Lehrpläne und Berichte können also einen ersten Eindruck davon vermitteln, was die Schulkinder nun regulär erwarten dürfte. Die wichtigsten Thesen sind schnell zusammengefasst: Ukrainer:innen und Russ:innen sind Brudervölker oder sogar ein einziges Volk, die Ukraine kennt seit jeher keine Staatlichkeit und wird von Radikalen geführt, alles Russische wird in der Ukraine diskriminiert und verfolgt, die Nato hat mit der Ostexpansion ihre Zusicherungen gebrochen und ist zur Kriegstreiberin geworden.

Didaktisch wird der Stoff nach klassischem propagandistischem Muster aufbereitet, etwa in einem mehr oder minder abgekarteten Frage-­Antwort-Spiel. Der Lehrer fragt: «Ist das ein Krieg gegen die Ukraine?» Die Schüler haben darauf zu antworten: «Es handelt sich nicht um ­einen Krieg gegen die Ukraine, sondern um eine friedensstiftende Sonderoperation.» Charakteristisch sind daneben altbekannte Übungen in Briefform: So sollen Kinder einen Brief an gleichaltrige Ukrai­ner:in­nen schreiben und sie über die tatsächliche Lage der Dinge aufklären.

Kriegsparolen im Ferienlager

Das erwähnte Jugendmilitär Junarmija wiederum hat die landesweite Aktion «Brief an den Soldaten» initiiert, bei der Kinder Worte der Unterstützung an die Frontkämpfer richten sollten. Schü­ler:in­nen einer Ingenieurschule in Sewastopol stellten Tragebeutel für die Soldaten her, versehen mit den neuen kriegerischen Buchstabensymbolen Z oder V. Die Zöglinge verschiedenster Einrichtungen, von Kindergärten bis zu Universitäten, hatten sich zudem für propagandistische Foto- und Videosets in Z-Form aufzustellen, zuweilen sogar auf Knien. Selbst in den Sommerferien mussten Schüler:innen patriotische Videobotschaften aufnehmen. Besonders hervorgetan hat sich dabei ein Ferien­lager im Umland von Belgorod: Hier feuerten die Kinder ihre Helden dabei an, die Ukraine vom Nazismus zu befreien – und schlossen die Botschaft mit einer Geste, die dem Hitlergruss zum Verwechseln ähnelte.

Dies wurde noch überboten von einer Schule in der Stadt Klin, wo man die Kinder im Rahmen eines Projekttags weisungsgemäss das Schulgelände verschönern liess. Den Prozess und die Ergebnisse dokumentierte man fotografisch. Für die Fotos posierten Lehrkräfte und Schü­ler:in­nen unter einer Russlandfahne mit dem Schriftzug «Ein Volk, eine Nation, ein Regent»; das Motto der ganzen Aktion lautete «Arbeit macht frei». Nicht nur, dass die teilnehmenden Lehrkräfte offenbar die Herkunft der Zitate nicht erkannt hatten: Sie hatten auch nicht bemerkt, dass sie von einem belarusischen Aktivisten hereingelegt worden waren, der die entsprechenden Weisungen an sie verschickt hatte – vorgeblich im Namen der Regierungspartei Einiges Russland.

Denunzieren wird belohnt

Tatsächlich folgen Lehrkörper und Schulleitungen nicht selten blind den Anordnungen der Obrigkeit – selbst wenn sie deren Ideologie nicht teilen, denn unliebsame Lehrkräfte werden unter Druck gesetzt oder gefeuert. Dabei wird Denunziation systematisch belohnt. Nach und nach will der Staat sämtlichen Schulleitungen sogar «pädagogische Be­rater:in­nen» aufhalsen, die ihnen nicht unterstellt sind. Diese sollen in erster Linie sicherstellen, dass sich die Schulen an die föderalen Vorgaben halten.

Hin und wieder sind es freilich die Schü­ler:in­nen selbst, die in der politischen Diskreditierung eine günstige Gelegenheit wittern, unliebsame Lehrpersonen loszuwerden. So provozierten in der Stadt Pensa einige Schü­ler:in­nen ihre Lehrerin zu regimekritischen Aussagen – und zeichneten das Gespräch auf, um sie anzuzeigen. Einigen Leh­rer:in­nen, die in derartigen Fällen vor Gericht stehen, drohen inzwischen bis zu fünfzehn Jahren Strafkolonie.

Trotzdem beugten sich längst nicht alle Leh­rer:in­nen dem Diktat des propagandistischen Unterrichts. Eingeforderte Dokumentationen werden oft nur pro forma abgeliefert, auch die Aufsichtsbehörden setzen viele pädagogische Richtlinien bislang nicht konsequent durch. Da es sich im letzten Schuljahr ohnehin der Form nach um Empfehlungen handelte, konnten sich die Lehrkräfte diesen immer wieder verweigern, ohne grössere Folgen in Kauf nehmen zu müssen. Vor allem dort, wo die Schulleitung regimekritischen Ansichten Verständnis und Sympathie entgegenbrachte, konnten Leh­rer:in­nen weiterhin unbehelligt ­einen ideologiefreien Unterricht pflegen.

Trotz aller Repressalien, Reformen und sonstiger fataler Entwicklungen im ­Schulleben: Indoktrinierungsversuche schlagen auch bei Kindern vielfach fehl. Gerade Schü­ler:in­nen, die bereits in den Genuss freier Bildung gekommen sind und über ausserschulische Informa­tionsquellen verfügen, lassen sich durch propagandistischen Unterricht nicht mehr so leicht manipulieren; sie positionieren sich zu einem guten Teil gegen den Krieg. Sie zeichnen ukrai­nische Staatssymbolik an die Tafel, singen die ukrainische Nationalhymne oder skandieren pro­ukrainische Losungen. Besonders in Regio­nen, in denen der Krieg unmittelbar präsent ist, wie im grenznahen Belgorod, fragen Kinder ihre Leh­rer:in­nen immer wieder, wann der Krieg aufhören werde – oder wann Putin endlich ­sterbe.

Alexander Estis, 1986 in einer jüdischen Familie in Moskau geboren, ist Schriftsteller und Kolumnist. 2021 erschien sein «Handwörterbuch der russischen Seele» bei der Parasitenpresse Köln. Er lebt in Aarau und residiert derzeit als Stadtschreiber in Heilbronn.