Krieg gegen die Ukraine : Kyjiws verblüffende Offensive
Innerhalb weniger Tage haben ukrainische Truppen Dutzende besetzte Städte und Dörfer im Nordosten des Landes befreit. Wie lässt sich der Rückzug der russischen Armee erklären? Und welche Folgen hat er für das Regime im Kreml?
Während die ukrainische Armee am Wochenende östlich der Millionenstadt Charkiw Ortschaft um Ortschaft befreite, weihte Wladimir Putin feierlich ein Riesenrad ein: die «Sonne von Moskau», mit 140 Metern Höhe ein europäischer Superlativ. Es sollte allerdings nur wenige Stunden dauern, bis das Fahrgeschäft seinen Betrieb wegen technischer Mängel wieder einstellen musste.
Ein monumentales Riesenrad, mehr Schein als Sein: Eine treffendere Metapher auf Russlands militärische Verfasstheit lässt sich derzeit kaum finden. Wochenlang hatten sich ukrainische und russische Streitkräfte in einem Patt gegenübergestanden, Beobachter:innen sagten einen langen «Abnutzungskrieg» voraus. Doch dann brach die russische Front im Nordosten in sich zusammen. Einmal mehr zeigte sich, wie sehr (vor allem westliche) Analyst:innen Kyjiw unter- und Moskau überschätzt hatten.
Kampfgeist statt Einschüchterung
Innerhalb weniger Tage befreite die Ukraine mehr Territorium, als Russlands Armee in den letzten Monaten erobert hatte: Präsident Wolodimir Selenski sprach am Montag von mehr als 6000 Quadratkilometern seit Anfang September – darunter sind auch strategisch bedeutende Orte wie Kupjansk oder Isjum, wichtige Knotenpunkte für die Versorgung der russischen Truppen im Donbas. Eine Fläche so gross wie der Kanton Bern – und der grösste Triumph, seit die russischen Truppen sich aus der Region rund um die Hauptstadt Kyjiw zurückziehen mussten. Gemäss ukrainischen Angaben gibt es inzwischen auch in der Region Luhansk erfolgreiche Vorstösse.
Laut der «New York Times» erhielt die Ukraine bei ihrer Gegenoffensive US-Unterstützung in Form von Geheimdienstinformationen über russische Stellungen. Dem russischen Verteidigungsministerium blieb indes nichts anderes übrig, als die Niederlage einzuräumen: In Moskau sprach man euphemistisch von einer «Umgruppierung» der Truppen – und beschoss Elektrizitätswerke und Eisenbahnlinien im Nachbarland. Das wahrscheinliche Ziel – die Bevölkerung einzuschüchtern und zu demoralisieren – dürften die brutalen Angriffe verfehlt und im Gegenteil den Kampfgeist der Ukrainer:innen gestärkt haben.
Gründe für den ukrainischen Erfolg gibt es einige. So hat Kyjiws Offensive in der südlichen Provinz Cherson (die allerdings deutlich langsamer voranschreitet) die russische Armee zur Verlegung von Truppen gezwungen, was wiederum zu einer Schwächung von deren Stellungen im Nordosten führte. Einige Beobachter:innen gehen zudem von einem Versagen der russischen Aufklärung aus. Doch neben diesen taktischen Fehlern dürfte vor allem ein Faktor entscheidend sein: Während die Ukrainer:innen um Befreiung und Selbstbestimmung kämpfen, wird die Kampfmoral russischer Soldaten offenbar immer schlechter.
Eine neue Protestbewegung?
Ob die Gegenoffensive einen Wendepunkt darstellt, lässt sich aktuell nicht sagen. Gebiete zu erobern, ist das eine – sie zu halten, etwas völlig anderes. Klar ist aber: Für den Kreml wird die Situation zunehmend gefährlich. Denn in Moskau formiert sich gerade eine neue Art Protestbewegung: Immer lauter werden nationalistische und rechtsextreme Stimmen, die über die Verluste in der Ukraine erzürnt sind und nach einer Eskalation – sei es die Generalmobilmachung oder gar der Einsatz von Atomwaffen – rufen. «Wenn die nationalistischen Kriegsbefürworter als einzige Opposition bleiben, drohen der Welt gefährliche Zeiten», warnt der russische Journalist Aleksei Kowaljow im US-Magazin «Foreign Policy».
Bisher ist der Kreml davor zurückgeschreckt, den Krieg nach Russland zu tragen, indem er die Söhne der städtischen Eliten an die Front schickt. Stattdessen wurden junge, mittellose Männer an der Peripherie rekrutiert. Doch inzwischen scheint der Armee das Personal auszugehen.
Es gibt allerdings auch positive Anzeichen. Bemerkenswert ist etwa, dass Dutzende Kommunalabgeordnete aus Moskau und St. Petersburg Putin zuletzt zum Rücktritt aufgefordert haben – auch wenn diese Stimmen dem Kreml nicht gefährlich werden dürften. Der liberale, zurzeit inhaftierte Regimegegner Wladimir Kara-Mursa zog in der «Zeit» derweil historische Analogien: «Politischer Wandel hat sich in Russland immer sehr plötzlich vollzogen – so schnell, dass er selbst für die Beteiligten überraschend kam.»