Von oben herab: Rock ’n’ Roll

Nr. 37 –

Stefan Gärtner über Cassis in der Swissminiatur

Mir ist, als wär es gestern gewesen, dabei ist es schon Tage her: dass in meinem Münchner Hotelzimmer morgens um halb neun die Tür aufgeht und ich denke, es ist das Zimmermädchen, und aus dem Bett heraus nuschle: «Kommen Sie später wieder!», und das Zimmermädchen ist aber ein Mann, verschwindet im Bad und fängt gut hörbar an zu scheissen.

Ich hätte mich ja eigentlich zwicken müssen, von wegen ich träume vielleicht, aber vor Überraschung und Entsetzen vergass ich es, und also verliess ich das Bett und wartete, bis der Überraschungsgast vom Klo zurückkam und ich ihn fragen konnte, was er in meinem Zimmer wolle. Der Gast, ein junger, blonder Mann vom Typ Oktoberfestleiche, sagte: «Chillen», legte sich in Hose und Socken in mein Bett und war auch durch gutes Zureden nicht da­raus zu vertreiben. Es versteht sich, dass an der Rezeption, die ich anrief, niemand abnahm, und der reine Zufall wars, dass plötzlich der Hausmeister mit zwei Herren vom Hotel im Flur stand, die sich mein Problem von mir erklären liessen und den jungen Mann auf sein Zimmer transferierten, 335, ich war 332.

Rock ’n’ Roll ist das nicht, aber nicht alles ist Rock ’n’ Roll.

Wie er überhaupt hereingekommen war, wird ewig ein Rätsel bleiben, aber immerhin hat er mir weder das Bad verkotzt noch die Fresse poliert, und ich hatte abends eine fantastische Geschichte auf der Party, derentwegen ich angereist war (und auf der selbst DJ Widmer nicht auf die Idee kam, das Smiths-Album «The Queen Is Dead» aufzulegen). Ich habe die Geschichte zwischenzeitlich sogar auf Englisch erzählt («… and took a dump») und kriege E-Mails von Leuten, die nicht auf dem Fest waren, aber trotzdem im Bild sind («Habe gerade deine lustige Hotelzimmergeschichte gehört, vom Mann, der zum Scheis­sen und Chillen kam!»).

Ob Bundespräsident Ignazio Cassis derlei schon mal erlebt hat? Vermutlich nicht; dafür erlebt er andere wichtige Dinge. Einen Tag nach dem Vorfall im Münchner Hotel Ravioli (Name ähnlich) hat Cassis in der Swissminiatur in Melide, Tessin, ein Modell des Palais des Nations eingeweiht, des europäischen Hauptsitzes der Uno in Genf. «Rund 100 Diplomatinnen und Diplomaten aus aller Welt sowie die Generaldirektorin des Büros der Vereinten Nationen in Genf (UNOG), Tatiana Valovaya, nahmen an der Zeremonie teil», teilt das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten mit. Man kann sich die Einweihung auf Twitter ansehen, es ist ein gros­ses Modell, aber natürlich immer noch klein. Anlass war das zwanzigjährige Jubiläum der Schweizer Uno-Mitgliedschaft.

Als sicher kann gelten, dass Cassis davon abends nichts erzählt hat. Was hätte er auch erzählen sollen? «Also, ich stehe da, habe meinen grauen Anzug an und ein Mikro in der Hand, neben mir die Generaldirektorin des Büros der Vereinten Nationen in Genf, und zähle runter: ‹Three, two, one, go!›, und das Modell wird enthüllt, und alle klatschen, und ich sage: ‹The spirit of Geneva can now be felt› oder so, weil das Modell die internationale Relevanz des Multilateralismus verkörpert, besonders in einer Zeit der Krisen, in welcher die Weltgemeinschaft zusammenhalten muss usw., kann man auf der Seite vom Aussendepartement alles nachlesen. Die Schweiz setzt sich als Uno-Mitglied nämlich für Krieg, extreme Armut und Weltwirtschaftskrise ein, Moment: für Antworten darauf! Jedenfalls rief ich dann später die Rezeption an und liess mir ein Käse­sandwich aufs Zimmer bringen. So war das!»

Nein, Rock ’n’ Roll ist das nicht, aber nicht alles ist Rock ’n’ Roll, auch wenn der freundlich esoterische Rocksänger Tom Liwa, Chef der Flowerpornoes, das auf meiner langen Zugfahrt nach Hause wieder behauptet hat: «Mach dich bereit / du Welt voller Wunder / hier kommt dein Liebhaber / hier kommt, hier kommt Rock ’n’ Roll.» Falls nämlich nicht, kommt eben Ignazio Cassis, mit rund hundert Diplomatinnen und Diplomaten.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.

Sein Buch «Terrorsprache» ist im WOZ-Shop erhältlich unter www.woz.ch/shop.