Globale Spionage: 7 100 000 000 Terrorverdächtige

Nr. 26 –

Von den USA nach Hongkong und Russland, dann vielleicht weiter nach Island, Kuba oder Ecuador. Die tatsächlichen oder auch nur kolportierten Fluchtbewegungen und -pläne von Edward Snowden sind so weltumspannend, wie die ganze Affäre um den US-amerikanischen Whistleblower in jeder Hinsicht eine globale ist: sowohl politisch als auch technisch und juristisch.

Die politische Globalität ist offensichtlich angesichts der weltweiten Ziele, Opfer und Objekte der von Snowden enthüllten illegalen Abhör- und Überwachungspraktiken des US-amerikanischen Geheimdiensts NSA und dessen britischen Pendants GCHQ. Und sie überrascht, historisch betrachtet, kaum. Bereits 1945 während der Gründungskonferenz der Uno in San Francisco hörten die US-Geheimdienste die Delegationsmitglieder aller anderen fünfzig Teilnehmerstaaten rund um die Uhr ab – auf Zugfahrten, in Hotelzimmern und Besprechungsräumen im Konferenzgebäude.

So war die US-Regierung an jedem Konferenztag bestens über die Verhandlungspositionen und internen Absprachen anderer Länder im Bild und konnte ihre Vorstellungen von der künftigen Uno-Charta vollständig durchsetzen – auch das von den damaligen Kolonialmächten Britannien und Frankreich zu Konferenzbeginn noch entschieden abgelehnte Ziel einer vollständigen Entkolonialisierung. Diese erfolgreiche globale Geheimdienstoperation wurde allerdings erst dreissig Jahre später bekannt, als Washington bis dahin unter Verschluss gehaltene Regierungsdokumente öffentlich zugänglich machen musste.

Seit Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Fall der Berliner Mauer 1989 betrafen Spionagetätigkeiten fast nur die beiden Supermächte USA und Sowjetunion sowie ihre Verbündeten. So ist es zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung. Welche Geheimdienstoperationen in dieser Zeit möglicherweise zwischen Indien und Pakistan stattfanden oder zwischen anderen verfeindeten Staaten, ist bis heute nicht bekannt.

Auch die Spionagegeschichten der Weltliteratur – von Graham Greenes «Der stille Amerikaner» bis zu John le Carrés «Spion, der aus der Kälte kam» – spielen fast ausschliesslich im Kontext des Kalten Kriegs. An George Smiley, dem fiktionalen Chef des britischen Auslandsgeheimdiensts MI6 und Hauptfigur vieler Romane von le Carré, wird deutlich, wie der Westen schon damals, bei seinen Geheimdienstoperationen gegen den Kommunismus, zu den Methoden des Gegners griff und damit die eigenen freiheitlichen Ideale, für die er zu kämpfen vorgab, verriet.

Nach dem 11. September 2001 begann die völlige globale Entgrenzung geheimdienstlicher Tätigkeiten. Anders als noch 1945 und während des Kalten Kriegs sind nicht mehr bestimmte andere Staaten oder ihre DiplomatInnen das Ziel von Überwachungs- und Abhöraktionen, sondern alle potenziell terrorverdächtigen Personen. Und damit theoretisch sämtliche derzeit rund 7,1 Milliarden BewohnerInnen dieser Erde.

Internationale Normen und Regeln für Geheimdienstoperationen gibt es keine, ausser der Bestimmung in Artikel 22 des Wiener Abkommens von 1962 zur Regelung diplomatischer Beziehungen. Demnach sind die Gebäude von Auslandsbotschaften und der Uno immun und dürfen nicht verwanzt werden. Doch spätestens seit der US-Geheimdienst CIA im Vorfeld des Irakkriegs von 2003 das Büro von Generalsekretär Kofi Annan in der New Yorker Uno-Zentrale aus der gegenüberliegenden US-Botschaft mit Richtmikrophonen abhörte, ist klar, dass die technische Entwicklung das Völkerrecht längst überholt hat.

Die Regierungen der USA und Britanniens verhindern seit langem eine Anpassung der völkerrechtlichen Bestimmungen an den Stand der Technik. Zugleich berufen sie sich bei ihren jetzt aufgeflogenen globalen Abhöraktionen auf nationale Gesetze. Nationale Strafgesetze der USA aus der Zeit des Ersten Weltkriegs müssen auch herhalten, um den «Verräter» und «Verbrecher» Snowden zu verfolgen.

Doch global gilt Snowden immer mehr Menschen als Held. Eine Petition auf der Website des Weissen Hauses, in der die sofortige Einstellung des Verfahrens gegen Snowden gefordert wird, erhielt bis Redaktionsschluss bereits über 120 000 Unterschriften.