Klimapolitik: «Das läuft auf Verzicht hinaus»

Nr. 42 –

Grünes Wachstum? Für die Journalistin und Buchautorin Ulrike Herrmann ist das eine Illusion. Im Interview erläutert sie, warum der Kapitalismus überwunden werden muss – nach dem Vorbild der britischen Kriegswirtschaft ab 1939.

WOZ: Frau Herrmann, verzichten, verbieten und rationieren – Sie benutzen in Ihrem neuen Buch unverzagt Begriffe, bei denen sich viele Politiker:innen lieber die Zunge abbeissen würden, als sie in den Mund zu nehmen. Wieso?

Ulrike Herrmann: Viele hoffen auf das grüne Wachstum, aber das ist eine Illusion. Denn der Ökostrom aus Solarzellen und Windrädern wird nicht ausreichen. Wenn man die Wirtschaft klimaneutral transformieren will, ist ein Schrumpfen der Wirtschaft unvermeidlich. Und wenn weniger Güter produziert werden, läuft das auf Verzicht hinaus.

Wind und Sonne stehen doch unbegrenzt zur Verfügung.

In der Tat: Die Sonne schickt etwa 5000-mal mehr Energie auf die Erde, als alle Menschen benötigen würden, wenn sie so leben würden wie wir im Westen. Das Problem ist: Man muss die Sonnen- und Windenergie einfangen und in Strom verwandeln. Auf solchen Strom muss alles umgestellt werden: Verkehr, Heizung, Industrie. Die Zahlen sind aber ernüchternd: Die Windenergie ist perspektivisch die wichtigste klimaneutrale Energie in Deutschland, macht aber bisher nur 4,7 Prozent des Endenergieverbrauchs aus. In der Schweiz spielt sie fast gar keine Rolle. Man müsste also noch Unmengen an Windrädern und Solarparks installieren, um komplett auf Erneuerbare umzusteigen.

Eine zentrale These Ihres Buchs ist: Klimaschutz ist nur möglich, wenn wir den Kapitalismus abschaffen. Warum?

Kapitalismus ist ein schillernder Begriff. Aus meiner Sicht meint er dasselbe wie Industrialisierung. Kapitalismus ist der Einsatz von Technik, um Waren herzustellen, die man mit Gewinn verkauft. Der Kern ist die Technik. Sie ermöglicht Wirtschaftswachstum pro Kopf. Technik funktioniert aber nur mit Energie. Da Ökostrom knapp bleiben wird, ist Wachstum nicht mehr möglich – und ohne Wachstum ist auch der Kapitalismus beendet.

In den historischen Kapiteln beschreiben Sie den Kapitalismus allerdings sehr wohlwollend.

Er hat ja auch Wachstum und Wohlstand für alle ermöglicht. Bevor der Kapitalismus in England ab 1760 entstand, wurden die Menschen im Durchschnitt nur 35 Jahre alt, weil sie unter anderem an Infektionskrankheiten starben, die wir heute nur noch aus dem Lexikon kennen.

Zunächst erzeugte der Kapitalismus aber ein nie gesehenes Mass an Elend. Auch die Lebenserwartung sank während der Industrialisierung in England.

Das ist das sogenannte Early-Growth-Paradox. Von der Industrialisierung profitierte in England anfangs nur eine kleine Minderheit, während es den meisten Brit:innen sogar schlechter ging. Die Maschinen wurden oft von Frauen oder Kindern bedient, die mit Hungerlöhnen abgespeist wurden. Doch ab etwa 1870 wurden die Gewerkschaften zugelassen – und dann stiegen auch die Reallöhne.

Der US-Soziologe und Historiker Mike Davis hat in seinem Buch «Die Geburt der Dritten Welt» herausgearbeitet, dass Millionen starben, als sie zwangsweise in das kapitalistische Weltsystem integriert wurden. Darauf gehen Sie kaum ein.

Es gab und gibt extreme Gewalt, auch der Kolonialismus war extrem brutal. Allerdings stimmt die These nicht, der Kapitalismus habe sich nur entwickeln können, weil es Kolonien gab. Spanien und Portugal hatten ab dem 16. Jahrhundert riesige Kolonialreiche, doch innerhalb von Jahrzehnten wurden diese Länder zum Armenhaus Europas.

Wenn der Kapitalismus Wachstum und Wohlstand erzeugt, was ist dann das Problem?

Das Problem ist, dass man in einer endlichen Welt nicht unendlich wachsen kann. Im Augenblick tun Schweizer:innen und Deutsche so, als ob es drei Planeten gäbe. Der Klimawandel ist keineswegs das einzige Problem, er ist lediglich das drängendste. Gleichzeitig ruinieren wir die Süsswasserreserven, die Meere, die Böden, wir rotten die Arten aus. Der Mensch ist ein biologisches Wesen und das letzte Glied in einer langen Nahrungskette. Wenn wir die Natur zerstören, zerstören wir irgendwann auch uns selbst.

Sie schlagen eine ökologische Kreislaufwirtschaft oder eine «Überlebensökonomie» vor, um die Naturzerstörung aufzuhalten. Und der Weg dahin soll sich an der britischen Kriegswirtschaft orientieren. Das müssen Sie erläutern.

Es gibt bereits viele Visionen, wie eine ökologische Kreislaufwirtschaft aussehen könnte, in der man nur verbraucht, was man recyclen kann. Die entscheidende Frage ist: Wie kommt man dorthin? Wie organisiert man ein «grünes Schrumpfen», ohne dass der Kapitalismus im Chaos zusammenbricht? Für dieses Problem gibt es nur ein historisches Beispiel: die britische Kriegswirtschaft ab 1939. Die Brit:innen hatten den Zweiten Weltkrieg nicht wirklich kommen sehen. In kürzester Zeit mussten sie Kapazitäten in den Fabriken für die Waffenproduktion frei machen. Die Friedenswirtschaft musste also schrumpfen. Es entstand eine demokratische private Planwirtschaft, was etwas völlig anderes war als das sozialistische Modell: Die Unternehmen blieben privat, die Manager entschieden weiterhin. Nur wurde vom Staat vorgegeben, was produziert werden sollte. Und die knappen Güter hat man gerecht verteilt, also rationiert. Und das war populär.

Tatsächlich?

Es entspannt eine Gesellschaft, zu wissen, dass in der Krise alle gleich sind und die Reichen kaum bevorzugt werden. Den britischen Armen ging es damals sogar besser als zuvor in Friedenszeiten, obwohl insgesamt ein Drittel weniger Konsumgüter zur Verfügung standen. Vor dem Krieg hatte es den Armen an Milch, Zucker, Fett und Fleisch gefehlt. In der Kriegswirtschaft haben sie diese Produkte zugeteilt bekommen. Prompt verbesserte sich ihre Ernährungslage.

Es geht Ihnen aber nicht um eine Rückkehr ins Jahr 1939.

Nein, mir geht es um die Mechanismen der Kriegswirtschaft. Wir wären viel reicher als die Brit:innen im Krieg. Wenn man die deutsche oder die Schweizer Wirtschaftsleistung um die Hälfte reduzieren würde, damit die Ökoenergie reicht, wären wir immer noch so wohlhabend wie im Jahr 1978. Das Leben war 1978 keineswegs schlechter als heute, die Leute waren nicht unzufriedener, wie die Glücksforschung gezeigt hat. Es gab natürlich keine Mangos, keine Erdbeeren oder Spargel im Winter. Und man flog auch nicht für zwei Tage nach Mallorca.

Wenn wir dieses Konsumniveau anpeilen würden, wären dann beispielsweise Smartphones noch erlaubt?

Man müsste natürlich nicht genauso leben wie 1978. Seither hat es enorme technische Fortschritte gegeben, und es gibt keinen Grund, auf Krebstherapien oder Smartphones zu verzichten. Aber permanent Filme streamen – das geht nicht, das frisst zu viel Energie. Für die Flug- und die Autoindustrie reicht der Ökostrom ebenfalls nicht, auch die Chemieindustrie müsste auf Teile ihrer Produkte verzichten, weil sie zu viel Energie benötigen.

Buchcover von «Das Ende des Kapitalismus»

Ulrike Herrmann: «Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden». Kiepenheuer & Witsch. Köln 2022. 352 Seiten. 38 Franken.