Erwachet!: Neues vom Nachbarland

Nr. 43 –

Michelle Steinbeck beobachtet den Faschismus in Italien

Oktober 2022. Hundert Jahre nach dem Marsch auf Rom und der faschistischen Machtübernahme spielt sich im italienischen Senat folgende Szene ab: Liliana Segre, 92-jährige Senatorin auf Lebenszeit und eine der letzten Auschwitz-Überlebenden, leitet als Amtsälteste die Wahl für den neuen Senatspräsidenten. Schon von vornherein hatte sich abgezeichnet, dass der Senator der Fratelli d’Italia Ignazio Benito (sic!) La Russa, unter anderem bekannt für das stolze Herumzeigen seiner Sammlung von Duce-Büsten und anderen faschistischen Reliquien, gute Chancen haben würde. Tatsächlich kommt es zur unmöglichen Situation: Eine jüdische Überlebende der Shoah muss einen bekennenden Faschisten als Präsidenten des Senats verkünden. Später wird sie in einem Interview sagen: «Ich will hoffen, dass es noch Antifaschismus gibt.»

Beim SRF ist übrigens klar: Es gibt ihn – er sei mindestens so gefährlich wie rechter Terror. In der «Tagesschau» vom 23. Oktober wird eine Antifa-Demonstration in Bern gleichgesetzt mit dem Angriff und Einschüchterungsversuch einer Gruppe Neonazis bei einer Kinderveranstaltung mit Dragqueens in Zürich.

Die neue italienische Regierung braucht dagegen nicht mehr ums heisse Hufeisen herumzureden. Ministerpräsidentin Giorgia Meloni gab bereits die klingenden Namen ihrer neuen Ministerien bekannt und somit die Stossrichtung der angestrebten Politik. So heisst das Familienministerium jetzt «Ministerium für Familie und Natalität», es wurde ausserdem mit dem Ministerium für Chancengleichheit zusammengelegt. Geführt wird es von einer Ultrakatholikin, die unter Chancengleichheit die gefährliche Beschneidung der Rechte von Frauen und Queers versteht. Das Bildungsministerium soll neu für «Bildung und Leistung» («Merito») sein. Aus dem Ministerium für ökologischen Wandel fällt das «ökologisch» heraus: Es wird zum «Ministerium für Umwelt und Energiesicherheit». Und das Ministerium für Landwirtschaft bekommt wie in Frankreich den Zusatz «für Ernährungssouveränität».

Aus der Landwirtschaft kommt aber auch die grosse Hoffnung der Linken. Der neu gewählte Abgeordnete Aboubakar Soumahoro zog mit schlammigen Gummistiefeln und erhobener Faust in die grosse Kammer des Parlaments ein. «Ich trage diese Stiefel als Symbol für die Leiden und Hoffnungen des wahren Italiens, das mit mir ins Parlament geht, um Gesetze zu verabschieden im Gedenken an diejenigen, die an Überarbeitung gestorben sind, an diejenigen, die diskriminiert werden, und an diejenigen, die hungern.» Der Gewerkschafter und Aktivist hatte sich noch diesen Juli auf demselben Platz vor der Abgeordnetenkammer angekettet, um auf die extrem prekäre Situation von Landarbeiter:innen aufmerksam zu machen und einen gesetzlichen Mindestlohn, einen Plan gegen Arbeitsunfälle und eine Reform der Lebensmittelkette zu fordern.

Soumahoro weiss, wofür (oder eher wogegen) er kämpft: Als Zwanzigjähriger kam er 1999 aus Côte d’Ivoire nach Italien, arbeitete für einen Stundenlohn von zwei Euro als Erntehelfer und schlief auf der Strasse. Heute ist er studierter Soziologe und die einzige Schwarze Person im italienischen Parlament. Dabei sieht er sich «in keiner Weise als Ausdruck einer Minderheit», sondern vielmeher als Repräsentant einer «Mehrheit, die in all den Jahren keine politische Vertregung gefunden hat».

Michelle Steinbeck ist Autorin und Studierende der Soziologie.