Antifaschismus in Italien: Als der Duce kurz ins Wanken kam
Vor hundert Jahren wurde in Rom der Sozialist Giacomo Matteotti ermordet. Auf seinen Tod folgte eine Krise der faschistischen Herrschaft – und ihre brutale Konsolidierung. Das Gedenken an den Abgeordneten ist heute politischer denn je.
Von einer «Lektion in demokratischer, antifaschistischer Moral» schrieb die Tageszeitung «La Repubblica» vergangene Woche und meinte damit eine Lektion nicht zuletzt für Italiens Rechte, die das Land seit 2022 regiert. Ort der Nachhilfestunde am 30. Mai war die Abgeordnetenkammer im Palazzo Montecitorio in Rom, ihr Anlass der 100. Jahrestag der Ermordung des sozialistischen Abgeordneten Giacomo Matteotti. Am 10. Juni 1924 wurde dieser umgebracht – von fünf Faschisten mit direktem Kontakt zu ihrem «Duce» Benito Mussolini, dem mutmasslichen Auftraggeber des Verbrechens.
Bei der parlamentarischen Feierstunde letzte Woche waren die Erb:innen des historischen Faschismus, darunter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und deren politischer Mentor, Senatspräsident Ignazio La Russa, für einmal nur Zuhörer:innen – genau wie das Millionenpublikum, das die von Rai 1 live übertragene Zeremonie im Fernsehen verfolgte. Dass Meloni, La Russa und deren grosse Anhänger:innenschaft ihre Sicht auf die Vergangenheit nunmehr ändern, ist allerdings nicht zu erwarten. Denn ungeachtet der längst bekannten Fakten zum «Fall Matteotti» halten sie an ihrer Darstellung fest, wonach Italiens faschistische Diktatur anfänglich einen eher moderaten, weniger brutalen Charakter gehabt habe.
Mord und Krise
Tatsächlich blieb in Italien nach der Machtübertragung an die Faschisten im Oktober 1922 die parlamentarische Fassade zunächst erhalten; schon wenig später, im Juli 1923, ebnete aber eine Wahlrechtsreform den Weg in den Einparteienstaat. Im April 1924 wurde erstmals nach dem neuen Modus gewählt: Zwei Drittel der Sitze fielen an die stärkste Gruppierung, die von Mussolinis Partito Nazionale Fascista (PNF) dominierte rechte Einheitsliste, die auf 375 Mandate kam. Ihr standen 160 oppositionelle Parlamentarier gegenüber, darunter Antonio Gramsci für die Kommunistische Partei – und Giacomo Matteotti, Wortführer des Partito Socialista Unitario (PSU), einer Abspaltung vom Partito Socialista Italiano (PSI).
Im Zuge des Wahlkampfs hatten faschistische Sturmtrupps linke Kandidaten verprügelt, Wähler eingeschüchtert, den Sozialisten Antonio Piccinini ermordet. Bei der Auszählung der Stimmen kam es zu Fälschungen. All das brachte Matteotti am 30. Mai 1924 im Parlament zur Sprache: Bevor das Wahlergebnis bestätigt werden könne, müsse eine Untersuchung stattfinden, verlangte er. Seine Rede löste bei den Faschisten im Saal Tumult aus. Auf Glückwünsche seiner Genoss:innen antwortete der mutige Antifaschist mit Sarkasmus: «Jetzt könnt ihr schon mal meine Trauerfeier vorbereiten.» Tags darauf forderte das faschistische Zentralorgan «Il Popolo d’Italia» für Matteotti «eine konkretere Antwort» als die Drohungen, die ihm im Parlament entgegengebrüllt worden seien. Gezeichnet war der Artikel von Mussolinis Bruder Arnaldo; Historiker:innen ordnen ihn allerdings dem Duce persönlich zu.
Am Nachmittag des 10. Juni 1924 wurde Matteotti in Rom unweit seiner Wohnung von fünf Männern überfallen und in ein Auto gezerrt, wie mehrere Augenzeug:innen berichteten. Erst am 16. August wurde seine Leiche gefunden. Matteottis Verschwinden sorgte für grosse Empörung, die Regierung wankte, Faschisten verbargen ihre Parteiabzeichen. Mussolinis Erklärungen waren zunächst defensiv; selbst führende Kapitalisten, die den Aufstieg des Faschismus mitfinanziert hatten, gingen auf Distanz.
Während die Bourgeoisie einen neuen Aufschwung der Arbeiter:innenbewegung befürchtete, erkannten die Kommunist:innen die Chance, die Regierung zu stürzen. Ihre im Februar gegründete Mailänder Zeitung «L’Unità» titelte: «Nieder mit der Mörderregierung!» Antonio Gramsci schrieb am 22. Juni in einem Brief an seine Frau Julia Schucht hoffnungsvoll: «Der Faschismus wurde in die Isolation getrieben und seine Führer von Panik ergriffen, während die Mitläufer das Weite suchten.»
Die Hoffnung auf einen Umsturz hielt allerdings nicht lange an. Die Oppositionsparteien zogen sich nach Matteottis Verschwinden aus dem Parlament zurück und bildeten den Block des «Aventin». Statt aber zum politischen Generalstreik aufzurufen, verabschiedeten sie Protesterklärungen – nichts als «lautstarke Nörgelei» und «lästiges Geschwätz», wie Mussolini höhnte. Und König Vittorio Emanuele III. hielt auch in der Matteotti-Krise seine schützende Hand über den Duce, den er zwei Jahre zuvor zum Regierungschef ernannt hatte.
Hin zum totalitären Staat
Am 3. Januar 1925 beendete Mussolini die Krise mit einer provokativen Rede. «Wenn der Faschismus eine kriminelle Vereinigung ist, dann bin ich eben der Anführer dieser kriminellen Vereinigung», brüstete er sich vor dem Parlament. Für die kommenden 48 Stunden kündigte er die Beendigung der «Rebellion» an. Er hielt Wort: Innerhalb weniger Tage gab es nach offiziellen Angaben des Innenministeriums 655 Hausdurchsuchungen und 111 Verhaftungen «subversiver Elemente»; etliche politische Zirkel und «subversive Organisationen» wurden aufgelöst.
Es folgte eine Welle verschärfter Repression: Entlassungen in den öffentlichen Diensten, Berufsverbote für unliebsame Journalisten und Anwälte. Mussolini proklamierte den «totalitären Staat». Er selbst erhielt diktatorische Vollmachten, Bürgermeister wurden durch von der Regierung ernannte «podestà» ersetzt, die politische Polizei und ein neu geschaffener Strafgerichtshof wüteten gegen Antifaschist:innen.
Auch Matteottis Mörder wurden Anfang 1926 vor Gericht gestellt. Zwei von ihnen wurden freigesprochen, drei erhielten Gefängnisstrafen von knapp sechs Jahren; aufgrund einer Amnestie waren sie schon nach wenigen Monaten wieder frei. Erst 1947, vier Jahre nach Mussolinis Sturz, wurde der Prozess wieder aufgenommen. Er endete mit drei Verurteilungen zu lebenslanger Haft, die auf je dreissig Jahre reduziert wurde. Der Anführer des Mordkommandos, Amerigo Dùmini, wurde 1956 aus der Haft entlassen, er starb 1967 in Rom.
In einem erst posthum veröffentlichten Schreiben an seinen Anwalt nannte Dùmini zwar nicht namentlich Mussolini als Auftraggeber des Mordes, am Inhalt des Auftrags aber liess er keinen Zweifel: «Es war absolut notwendig, Matteotti schnellstmöglich am Reden zu hindern, ihn für immer verschwinden zu lassen.» Eile war geboten, weil Matteotti am 11. Juni 1924 vor dem Parlament sprechen wollte, mutmasslich zu Korruptionsvorwürfen gegen die Mussolini-Brüder: Die beiden sollen für die illegale Überlassung von Ölbohrrechten an die US-amerikanische Sinclair Exploration Company Geld bekommen haben. Mit Matteotti sollen auch belastende Dokumente verschwunden sein, die er am 10. Juni 1924 mutmasslich auf sich getragen hatte.
Der Kampf von Giacomo Matteotti gegen den Faschismus bleibt präsent. Auch im Alltag: Fast 4000 Strassen und Plätze in ganz Italien tragen heute seinen Namen.